Bericht des Weltgipfels für soziale Entwicklung: Aktionsprogramm



Kapitel IV

Soziale Integration

Grundlagen und Zielsetzungen

66. Ziel der sozialen Integration ist es, "eine Gesellschaft für alle" zu schaffen, in der jeder einzelne mit seinen Rechten und Pflichten eine aktive Rolle zu spielen hat. Eine solche integrative Gesellschaft muß sich auf die Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten, kulturelle und religiöse Vielfalt, soziale Gerechtigkeit und die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse schwacher und benachteiligter Gruppen, demokratische Partizipation und Rechtsstaatlichkeit stützen. Der pluralistische Charakter der Mehrheit der Gesellschaften hat mitunter dazu geführt, daß die verschiedenen Gruppen Probleme haben, ein von Harmonie und Kooperationsbereitschaft getragenes Zusammenleben zu erreichen und zu bewahren und gleichberechtigten Zugang zu allen Ressourcen der Gesellschaft zu erlangen. Die volle Anerkennung der Rechte des einzelnen im Kontext der Rechtsstaatlichkeit war nicht immer voll gewährleistet. Seit der Gründung der Vereinten Nationen hat das Streben nach einer humanen, stabilen, sicheren, toleranten und gerechten Gesellschaft bestenfalls zwiespältige Ergebnisse gezeitigt.

67. Dennoch lassen sich Fortschritte feststellen: der Fortgang des Entkolonialisierungsprozesses, die Beseitigung der Apartheid, die Ausbreitung der Demokratie, die immer breitere Anerkennung der Notwendigkeit, die Menschenwürde, alle Menschenrechte und Grundfreiheiten und die kulturelle Vielfalt zu achten, die Ablehnung jeder Diskriminierung, die verstärkte Anerkennung der einzigartigen Anliegen der Angehörigen autochthoner Bevölkerungsgruppen der Welt, ein verstärktes Bewußtsein des Bestehens einer kollektiven Verantwortung für alle Mitglieder der Gesellschaft, verbesserte wirtschaftliche Möglichkeiten und Bildungschancen und die Globalisierung der Kommunikation, sowie größere soziale Mobilität, mehr Wahlmöglichkeiten und größere Handlungsfreiheit.

68. Ungeachtet dieser hier beispielhaft genannten Fortschritte gibt es auch negative Entwicklungen, wie die gesellschaftliche Polarisierung und die soziale Fragmentation, die wachsenden Unterschiede und Ungleichheiten der Einkommen und des Reichtums innerhalb der Nationen und zwischen ihnen, Probleme infolge des ungezügelten Wachstums der Städte und der Zerstörung der Umwelt, die Marginalisierung von Menschen, Familien, sozialen Gruppen, Gemeinschaften und sogar ganzen Ländern; und die Belastung des einzelnen, der Familien, Gemeinschaften und Institutionen infolge des raschen sozialen Wandels, des wirtschaftlichen Umbruchs, von Wanderungen und großräumigen Bevölkerungsverschiebungen, insbesondere in Gebieten bewaffneten Konflikts.

69. Darüber hinaus stellt Gewalt in ihren vielen Erscheinungsformen, einschließlich der Gewalt in der Familie, insbesondere Gewalt gegen Frauen, Kinder, ältere Menschen oder Behinderte, allerorten eine wachsende Bedrohung der Sicherheit des einzelnen, der Familien und der Gemeinschaften dar. Der völlige Zusammenbruch des sozialen Gefüges ist heutzutage ein nur zu reelles Phänomen. Die organisierte Kriminalität, illegale Drogen, illegaler Waffenhandel, Frauen- und Kinderhandel, ethnische und religiöse Konflikte, Bürgerkrieg, Terrorismus, alle Formen extremistischer Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, politische Morde und sogar Völkermord stellen grundlegende Bedrohungen der Gesellschaften und der weltweiten sozialen Ordnung dar. Dies sind überzeugende und dringende Gründe für die Regierungen, einzeln und gegebenenfalls gemeinsam tätig zu werden, um den sozialen Zusammenhalt zu fördern und dabei gleichzeitig die Vielfalt zu würdigen, zu schützen und zu schätzen.

70. Folgendes ist daher dringend notwendig:

transparente und rechenschaftspflichtige öffentliche Institutionen, die den Menschen auf gleichberechtigter Grundlage offenstehen und auf ihre Bedürfnisse eingehen;

Möglichkeiten für jedermann, an allen Bereichen des öffentlichen Lebens teilzunehmen;

verstärkte Beteiligung und Einbeziehung der bürgerlichen Gesellschaft bei der Formulierung, Durchführung und Bewertung von Beschlüssen, die sich maßgeblich auf die Funktionsfähigkeit und das Wohlergehen der Gesellschaft auswirken;

öffentlich zugängliche objektive Daten, damit die Menschen in Kenntnis der Sachlage Entscheidungen treffen können;

Wahrung der sozialen Stabilität und Förderung der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Fortschritts;

Förderung der Nichtdiskriminierung, der Toleranz und der gegenseitigen Achtung und der Wertschätzung der Vielfalt;

Gleichbehandlung, Chancengleichheit und soziale Mobilität;

Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Geschlechter und die Befähigung der Frauen zur Selbstbestimmung;

die Beseitigung physischer und sozialer Hindernisse mit dem Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, die allen zugänglich ist, unter besonderer Betonung von Maßnahmen zur Deckung der Bedürfnisse und Interessen jener Personen, deren volle Teilhabe an der Gesellschaft auf Hindernisse stößt;

die besondere Betonung des Rechts auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit sowie der Gesundheit als Faktor der Entwicklung;

die Förderung des Grundsatzes der Mitmenschlichkeit und der Fürsorge im Kontext der Menschenrechtserziehung;

unter Anerkennung der legitimen Bedürfnisse der Landesverteidigung, die Erkenntnis und die Bekämpfung der Gefahren für die Gesellschaft infolge bewaffneter Konflikte und der schädlichen Auswirkungen überhöhter Militärausgaben, des Waffenhandels, insbesondere des Handels mit Waffen, die besonders schwere Verletzungen verursachen oder unterschiedslos wirken, und überhöhter Investitionen in die Rüstungsproduktion und den Waffenerwerb. Desgleichen sollen die Notwendigkeit der Bekämpfung des unerlaubten Waffenhandels, von Gewalt, Kriminalität, der Erzeugung und Verwendung von unerlaubten Drogen, des unerlaubten Drogenverkehrs und des Frauen- und Kinderhandels anerkannt und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden;

die Beseitigung aller Formen der Gewalt und die vollinhaltliche Durchführung der Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen16.

Maßnahmen

A. Bürgernahe Regierungen und volle Teilhabe an der Gesellschaft

71. Die Regierungen sollen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten fördern und schützen, einschließlich des Rechts auf Entwicklung, eingedenk der gegenseitigen Abhängigkeit und Komplementarität von Demokratie, Entwicklung und Achtung der Menschenrechte, und sollen eine größere Bürgernähe der öffentlichen Institutionen sicherstellen, indem sie

a) dafür sorgen, daß Entscheidungen auf genauen Daten beruhen und unter Beteiligung derjenigen zustande kommen, die davon betroffen sind, und dabei innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens jedes Landes die Verantwortlichkeiten der unterschiedlichen Regierungsebenen und die Verwaltungsregelungen für die Organisation und die Bereitstellung von Dienstleistungen ständig überprüfen;

b) innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens jedes Landes ständig prüfen, welche Kapazitäten und Fähigkeiten auf nationaler, Länder-, Gemeinde- und lokaler Ebene vorhanden sind, um Einnahmen zu beschaffen, und Mittel zuteilen mit dem Ziel, lokale Initiativen zur Wahrung und Erhöhung des Zusammenhalts der Gemeinwesen zu fördern;

c) Verwaltungsvorschriften vereinfachen, Informationen über Fragen der staatlichen Politik und Initiativen zugunsten des Gesamtinteresses verbreiten und den Zugang zu Informationen soweit wie möglich erleichtern;

d) Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Bürgern und Behörden schaffen und volles gegenseitiges Vertrauen fördern sowie kostengünstige Beschwerdeverfahren einführen, die allen Menschen offenstehen, insbesondere denjenigen, die keinen Zugang zu Kommunikationsmitteln und -organen haben, um Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht zu fordern;

e) einschlägige Studien/Forschungsarbeiten zur Bewertung der Auswirkungen der globalen und technologischen Veränderungen auf die soziale Integration sowie Bewertungen der Politiken und Programme zur Verwirklichung der verschiedenen Teilaspekte der sozialen Integration anregen; und den nationalen und internationalen Gedankenaustausch und die Verbreitung von Informationen über innovative Modelle und erfolgreiche praktische Erfahrungen anregen;

f) von allen Amtsträgern Rechenschaftspflicht für die ehrliche, gerechte und faire Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen für die Bürger fordern;

g) ihre Dienste allen Bürgern zugänglich machen und besonders sorgfältig darauf achten, daß die Dienste allen Bedürftigen zur Verfügung gestellt werden;

h) die politische Partizipation der Bevölkerung stärken und Transparenz und Rechenschaftspflicht bei politischen Gruppierungen auf lokaler und nationaler Ebene fördern;

i) die Ratifikation, möglichst unter Verzicht auf Vorbehalte, und Durchführung der internationalen Menschenrechtsinstrumente fördern, welche die Beseitigung der Hindernisse für den vollen Genuß aller Menschenrechte zum Ziel haben.

72. Die Förderung der möglichst umfassenden Teilhabe an der Gesellschaft erfordert:

a) die Stärkung der Fähigkeiten und Möglichkeiten aller Menschen, insbesondere der Angehörigen schwacher und benachteiligter Gruppen, innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens jedes Landes unabhängige Organisationen zu gründen und aufrechtzuerhalten, die ihre Interessen vertreten;

b) die Befähigung von Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere Institutionen, die schwache und benachteiligte Gruppen vertreten, an der Ausarbeitung, Durchführung und Bewertung von Politiken im Zusammenhang mit der sozialen Entwicklung auf beratender Grundlage mitzuwirken;

c) die vermehrte Einbindung lokaler Verbände in die Konzeption und Durchführung lokaler Projekte, insbesondere auf dem Gebiet der Erziehung, des Gesundheitswesens, der Ressourcenbewirtschaftung und des sozialen Schutzes;

d) das Vorhandensein eines rechtlichen Rahmens und einer Unterstützungsstruktur, welche die Bildung lokaler Verbände und freiwilliger Vereinigungen von Bürgern anregen und konstruktive Beiträge von ihrer Seite fördern;

e) die Ermutigung aller Mitglieder der Gesellschaft zur Ausübung ihrer Rechte, zur Erfüllung ihrer Verantwortlichkeiten und zur vollen Teilhabe an ihrer Gesellschaft, eingedenk dessen, daß die Regierungen alleine nicht alle Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen können;

f) die Schaffung eines allgemeinen und flexiblen sozialen Netzes, das den verfügbaren wirtschaftlichen Mitteln Rechnung trägt und die Eingliederung und die aktive Teilhabe an der Gesellschaft fördert;

g) die Erleichterung des Zugangs von benachteiligten und marginalisierten Menschen zu Bildung und Information und die Erleichterung ihrer Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben;

h) die Förderung der Gleichheit und der sozialen Integration durch Sport und kulturelle Aktivitäten.

B. Nichtdiskriminierung, Toleranz und gegenseitige Achtung und Wertschätzung der Vielfalt

73. Die Beseitigung der Diskriminierung und die Förderung der Toleranz und der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung der Vielfalt auf nationaler und internationaler Ebene erfordert:

a) den Erlaß und die Anwendung geeigneter Gesetze und sonstiger Vorschriften zur Bekämpfung von Rassismus, Rassendiskriminierung, religiöser Intoleranz in allen ihren verschiedenen Formen, Fremdenfeindlichkeit und allen Formen der Diskriminierung in allen Bereichen der Gesellschaft;

b) die Förderung der Ratifikation, möglichst unter Verzicht auf Vorbehalte, und der Durchführung internationaler Rechtsinstrumente, namentlich auch des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung17 und der Konvention über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau18;

c) konkrete Maßnahmen im Kontext der Durchführung der Zukunftsstrategien von Nairobi zur Förderung der Frau19, um altgewohnte rechtliche und soziale Schranken auf dem Gebiet der Beschäftigung, der Bildung, der Produktivressourcen und der öffentlichen Dienste zu beseitigen, um den Frauen behilflich zu sein, sich ihrer Rechte bewußt zu werden und sie zu verwirklichen, und um die Beseitigung der Diskriminierung von Mädchen innerhalb der Familie zu gewährleisten, insbesondere was Gesundheit, Ernährung und Bildung betrifft;

d) die Herbeiführung der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Geschlechter durch die Veränderung von Einstellungen, Politiken und Praktiken, die Förderung der vollen und selbstbestimmten Teilnahme der Frau am sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben und eine ausgewogenere Vertretung der Geschlechter in Entscheidungsfindungsprozessen auf allen Ebenen;

e) die Überprüfung und erforderlichenfalls Abänderung von Gesetzen, sonstigen Vorschriften und Praktiken, die Diskriminierung perpetuieren;

f) die Verbreitung von in einfacher Sprache gehaltenen Informationen an alle Gesellschaftsgruppen über die Rechte des einzelnen und die verfügbaren Beschwerdemittel;

g) die Stärkung beziehungsweise Schaffung von Mechanismen für die Überwachung und Beilegung von Streitigkeiten und Konflikten im Zusammenhang mit diskriminierenden Praktiken und die Schaffung von Schieds- und Schlichtungsverfahren auf lokaler und nationaler Ebene;

h) ein beispielhaftes Verhalten der staatlichen Institutionen und des Bildungssystems, wenn es darum geht, die Achtung der freien Meinungsäußerung, der Demokratie, des politischen Pluralismus, unterschiedlichen Erbes und verschiedener Kulturen und Werte, religiöser Toleranz und Grundsätze und der nationalen Traditionen, auf die sich ein Land gründet, zu fördern und zu schützen;

i) die Anerkennung dessen, daß die Sprachen, die in der Welt gesprochen oder verwendet werden, zu achten und zu schützen sind;

j) die Anerkennung dessen, daß ein von Zusammenarbeit und Harmonie gekennzeichnetes Zusammenleben für alle Menschen von größter Bedeutung ist, und die Gewährleistung des vollen Schutzes der Traditionen und des kulturellen Erbes der Nationen;

k) die Förderung unabhängiger Kommunikationsmedien, die das Verständnis aller Aspekte der sozialen Integration fördern und die Menschen dafür sensibilisieren, unter voller Achtung der Informations- und Meinungsfreiheit.


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