Agenda für Entwicklung


III. DIE VEREINTEN NATIONEN UND DER ENTWICKLUNGSPROZESS

A. Die Hauptakteure

139. Obwohl der einzelne Staat nicht mehr der einzige Akteur im Entwicklungsprozeß ist, trägt jeder Staat doch weiterhin die Hauptverantwortung für seine eigene Entwicklung. Gleichviel, ob Entwicklung als Verantwortlichkeit der Staaten oder als Recht der Völker gesehen wird, in beiden Fällen sind Voraussetzungen dafür eine kompetente Regierungsführung, eine kohärente einzelstaatliche Politik sowie ein starkes Engagement der Bevölkerung.

140. Nur wenige Gesellschaften, wenn überhaupt eine, können indessen alle Aspekte der Entwicklung ohne entsprechende Hilfe verfolgen. Entwicklung erfordert internationale Zusammenarbeit und die Unterstützung der Anstrengungen der Staaten durch andere Akteure. Die bilateral geleistete Entwicklungshilfe beträgt etwa 62 Milliarden Dollar pro Jahr. In vielen Fällen handelt es sich dabei um Hilfe mit Lieferbindung.

141. Jeder Staat hat seinen eigenen Entwicklungsansatz. Sogar innerhalb einer Regierung sind oft verschiedene Ministerien für miteinander in Zusammenhang stehende Entwicklungsfragen zuständig. So kann eine Regierung innerhalb einer internationalen Entwicklungsorganisation derzeit etwa durch ihr Landwirtschafts-, Umwelt-, Finanz-, Wirtschafts- oder Außenministerium vertreten sein.

142. Was die Bandbreite der Ideen, Mittel, Projekte und beteiligten Gruppen angeht, ist Entwicklung zu einem wahrhaft globalen Unterfangen geworden. Die Anzahl und Vielfalt der öffentlichen und privaten, nationalen und internationalen Akteure im Entwicklungsprozeß ist ständig im Steigen begriffen. Schon allein die Vielfalt der unmittelbar und mittelbar Beteiligten droht mittlerweile in einigen Gesellschaften die Entwicklungsbemühungen zu überfordern. Das gesamte Unterfangen verlangt nach größerer Kohärenz. Überdies bleibt die Aufteilung der Ressourcen zwischen den verschiedenen Entwicklungsdimensionen unausgewogen, mit dem Ergebnis, daß viele Aktivitäten, insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Entwicklung, nicht ausreichend finanziell unterstützt werden. Eine entsprechende Koordinierung und das Setzen von Prioritäten sind daher unabdingbar, denn jede der verschiedenen beteiligten Stellen hat ihre eigenen Ziele und Aufgabenstellungen, vertritt bestimmte Interessen und verfolgt eigene Vorgehensweisen. Es gilt, ein System der internationalen Zusammenarbeit einzurichten, das die Mobilisierung einheimischer Ressourcen und ausländischer Unterstützung (sowohl technischer als auch finanzieller Art) für den Frieden, die Wirtschaft, die Umwelt, die Gesellschaft und die Demokratie erleichtert.

143. Den Organen der Vereinten Nationen werden durch die Charta Funktionen im Entwicklungsbereich zugewiesen, die nach neuen Formen der Koordinierung verlangen. In den Kapiteln IV, IX und X der Charta wird der Generalversammlung die grundlegende Verantwortung für die internationale wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit übertragen. Im ersten halben Jahrhundert ihres Bestehens ist die Generalversammlung zu einem universellen Forum geworden, in dem Entwicklungsfragen, die alle Staaten betreffen, diskutiert werden und in dem entsprechende Maßnahmen beschlossen werden. Der Wirtschafts- und Sozialrat besitzt aufgrund der ihm durch Kapitel X der Charta übertragenen Aufgaben und Befugnisse eine Reihe von Verantwortlichkeiten, was die Untersuchung, die Inangriffnahme und die Koordinierung von entwicklungsbezogenen Fragenstellungen angeht. Der Sicherheitsrat kann aufgrund von Kapitel VII den Verlauf der Entwicklung in Staaten, gegen die Sanktionen angewandt werden, sowie in benachbarten und anderen Staaten erheblich beeinflussen. Das Sekretariat gewährt fachliche Unterstützung, einschließlich technischer Beratung und Unterstützung, wenn es um Entwicklungsaufgaben etwa in den Bereichen Entwicklungsplanung und Entwicklungspolitik, Statistik, Energie, natürliche Ressourcen und öffentliche Verwaltung geht. (Die Haushaltsansätze der Vereinten Nationen und ihrer Fonds und Programme sind Anhang I zu diesem Bericht zu entnehmen.) In Anbetracht der Streuung der Verantwortlichkeiten zwischen den verschiedenen Organen ist die Wichtigkeit der Koordinierung und Kohärenz offenkundig. Über die Regionalkommissionen fördert das Sekretariat die Koordinierung der sektorübergreifenden Programme und der technischen Zusammenarbeit zugunsten der Mitgliedstaaten.

144. Die Programme und Fonds der Vereinten Nationen verfügen über 3,6 Milliarden Dollar pro Jahr für operative Tätigkeiten (siehe Anhang II). Während ihre Arbeit voranschreitet, ergeben sich neue Entwicklungen. Eine Tendenz zur sach- und zweckgebundenen Finanzierung bringt neue Herausforderungen und Chancen für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) mit sich, nämlich Programme zu unterstützen, mit deren Hilfe die Empfängerländer alle Bereiche einer bestandfähigen menschlichen Entwicklung umfassend in Angriff nehmen können. Eine weitere Tendenz ist in einer Verlagerung des Schwergewichts von der Entwicklungshilfe zur Nothilfe zu sehen. Was zum Beispiel die Arbeit des Welternährungsprogramms (WFP) angeht, so werden, obwohl absolute Rekordmengen geliefert werden, aus schierer Notwendigkeit heraus drei Fünftel davon für die kurzfristige Katastrophenhilfe statt für langfristige Entwicklungsmaßnahmen verwendet. Durch Gewalt, soziales Elend oder wirtschaftliche Not verdrängt, benötigen derzeit nahezu 20 Millionen Flüchtlinge und 25 Millionen im eigenen Land Vertriebene Hilfe. Im Jahre 1993 wurden vom Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) etwa 1,115 Milliarden Dollar für diesen Zweck ausgegeben.

145. Die Sonderorganisationen des Systems der Vereinten Nationen haben alle ihre eigenen Satzungen, Haushalte und Verwaltungsorgane. Gemeinsam zahlen sie netto 6,3 Milliarden Dollar an zu Vorzugsbedingungen vergebenen Mitteln und 7,8 Milliarden Dollar an nicht zu Vorzugsbedingungen vergebenen Darlehen aus. Die Sonderorganisationen beziehen ungefähr 40 Prozent ihrer Projektgelder aus Programmen und Fonds der Vereinten Nationen. Die Mitgliedstaaten stellen ihnen außerdem Mittel für konkrete Projekte zur Verfügung. Neue Tendenzen zeichnen sich ab. Lange Zeit ging man davon aus, daß die Tätigkeit der Bretton-Woods-Institutionen (der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds oder IWF) primär den unmittelbaren Fragen der makroökonomischen Stabilität und des Wirtschaftswachstums gelte, wobei die langfristigen sozialen Aspekte der Entwicklung anderen Stellen innerhalb des Systems der Vereinten Nationen überlassen wurden. Veränderungen im Verlauf und im Wesen der weltweiten Entwicklung führen zu einem Überdenken dieser Arbeitsteilung. Erstens verschwimmt die Abgrenzung zwischen "harten" und "weichen" Fragen immer mehr. Somit beschäftigen sich die Bretton-Woods-Institutionen in Verbindung mit Anpassungsprogrammen nunmehr auch mit der sozialen Entwicklung und der Schaffung von Systemen der sozialen Sicherheit. Der IWF befaßt sich zunehmend damit, durch Beratung und Unterstützung auf mittlere Sicht hochqualitatives Wachstum zu fördern. Die Weltbank, die sich schon seit langem mit sozialen Fragen auseinandersetzt, prüft bei der Kreditvergabe nun auch die Auswirkungen auf die Umwelt und stellt Finanzmittel für die sozialen Entwicklungsdimensionen bereit. Zweitens hat die internationale Kreditvergabe und Investitionstätigkeit so zugenommen, daß die Darlehensvergabe der Weltbank in ihrem direkten Einfluß auf die Entwicklung inzwischen weniger ausschlaggebend ist und ihr größere Bedeutung als Indikator der Kreditwürdigkeit für die Privatkapitalmärkte zukommt. Drittens haben die mit der Kreditvergabe verbundenen Auflagen die Handlungsfähigkeit der Regierungen eingeschränkt und somit die Gefahr innerstaatlicher Instabilität erhöht. In ihrer Gesamtheit lassen diese Entwicklungen erkennen, daß es notwendig ist, einen stärkeren Bezug zwischen der grundsatzpolitischen Beratung und den Länderprogrammen der Bretton-Woods-Institutionen und den Ansätzen und Methoden anderer Akteure im Entwicklungsprozeß herzustellen.

146. Regionale Abmachungen und Organisationen gewinnen in der Welt immer mehr an Bedeutung und stellen alljährlich Entwicklungshilfe in Höhe von etwa 5,5 Milliarden Dollar zur Verfügung. Regionalismus ist mit dem durch die Vereinten Nationen verkörperten Internationalismus nicht unvereinbar; er stellt aber auch keine Alternative dazu dar. Regionale Zusammenarbeit ist eine Notwendigkeit für weltweite Entwicklung. Regionale Handelszusammenschlüsse schaffen erweiterte Märkte für die Unternehmen eines Landes und fördern interregionale Übereinkünfte zur Handelserleichterung. Regionale Hilfe kann Entwicklung über politische Grenzen hinweg beeinflussen und auf praktische Bedürfnisse eingehen, wo immer diese auftauchen. Wasserressourcen, Stromversorgung, Verkehrswesen, Kommunikations- und Gesundheitssysteme können alle von einem regionalen Ansatz profitieren. Die regionale Koordinierung ermöglicht es, einen länderübergreifenden Ausgleich herzustellen und bürokratische Rivalitäten auf niedrigerer Ebene zu überwinden. Die Regionalisierung bringt jedoch auch die Gefahr des Protektionismus und der Einführung neuer bürokratischer Ebenen mit sich. Eine sorgfältige Steuerung ist notwendig, um zu gewährleisten, daß die Regionalisierung eine weitergehende Koordinierung, die für eine umfassende Entwicklung erforderlich ist, auch tatsächlich erleichtert.

147. Nichtstaatliche Organisationen führen Projekte im Wert von über 7 Milliarden Dollar pro Jahr durch. Bereits seit langem in der Friedensarbeit aktiv, sind nichtstaatliche Organisationen oft schon von allem Anfang an bei Konflikten zur Stelle, leisten einen unentbehrlichen Beitrag zur Soforthilfe für die in Mitleidenschaft gezogene Bevölkerung und schaffen die Grundlage für den Wiederaufbau einer durch Krieg zerrütteten Gesellschaft. Aufgrund ihrer flexiblen Strukturen, ihrer Fähigkeit, private Mittel zu mobilisieren, und ihres hochmotivierten Personals können die nichtstaatlichen Organisationen der Sache der Entwicklung von enormem Nutzen sein. Ihre Zahl und Bedeutung ist im Laufe der letzten zehn Jahre außerordentlich gestiegen. Netze nichtstaatlicher Organisationen erstrecken sich mittlerweile über die ganze Welt; bei den großen internationalen Konferenzen dieses Jahrzehnts haben sie sich als maßgeblicher Faktor erwiesen. Die Zeit ist reif, um ein produktiveres, von gegenseitiger Abstimmung und Zusammenarbeit geprägtes Verhältnis zwischen der Arbeit der nichtstaatlichen Organisationen und der der Vereinten Nationen herzustellen.

148. Die Ströme der internationalen Privatinvestitionen haben einen Wert von 1 Billion Dollar pro Jahr erreicht und bieten somit ein ungeheures Potential für die Schaffung von Arbeitsplätzen, den Technologietransfer, Ausbildungsmöglichkeiten und die Förderung des Handels. Die dadurch ausgelöste Dynamik kann stagnierende Volkswirtschaften neu beleben und die Eingliederung in das globale Wirtschaftssystem fördern. Ausländische Direktinvestitionen können positive Auswirkungen auf die technischen Fähigkeiten haben, die den Ländern für die Entwicklung zur Verfügung stehen. In zunehmendem Maße wird die positive Rolle anerkannt, die die Privatwirtschaft spielen kann, indem sie Lösungen für Probleme anbietet, die einst als Domäne der öffentlichen Hand angesehen wurden. In einigen Ländern werden etwa von Privatunternehmern effektive öffentliche Dienstleistungen bereitgestellt, die das Fernmeldewesen, die Verkehrseinrichtungen, die Energieversorgung, die Abfallverwertung und die Wasserversorgung umfassen. In vielen Fällen könnten Subventionen für staatliche Unternehmen durch zielgerichtete Subventionen ersetzt werden, was es ermöglichen würde, einigen Benutzern die tatsächlichen Kosten der Dienstleistungen in Rechnung zu stellen und die öffentlichen Gelder zugunsten umfassenderer Bedürfnisse einzusetzen.

149. Akademische und wissenschaftliche Institutionen haben schon vor Jahrhunderten begonnen, auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung ein fruchtbares weltweites Beziehungsgeflecht aufzubauen. Heute umspannt ein Netz Tausender geistiger Begegnungsstätten die Erde, das Raum für gemeinsame Reflexion, Experimentieren, Kreativität und nahezu auf Knopfdruck möglichen geistigen Austausch schafft. Immer häufiger überschreitet die wissenschaftliche Arbeit einzelne Disziplinen und politische Grenzen; überkommene Kategorien werden dabei aufgelöst und zu neuen Modellen zusammengefügt, die dem Nutzen für die Gesellschaft Rechnung tragen. Die Gemeinschaft der Wissenschaftler bildet ein weltweites Netz und teilt gewisse grundlegende Interessen, Werte und Normen. Bei der Bewältigung der großen Entwicklungsprobleme kommt ihr eine wichtige Rolle zu. Wissenschafts- und Technologiezentren befassen sich mit Fragen, die von unmittelbarer praktischer Bedeutung für das tägliche Leben der Menschen sind, während sie gleichzeitig die langfristigere Perspektive des natur- und geisteswissenschaftlichen Wissensschatzes auf aktuelle Fragen anwenden. Durch die Entwicklung von neuen, sicheren, einfachen und wirksamen Methoden der Familienplanung, durch die Erschließung umweltfreundlicher Energiequellen, durch die Verbesserung landwirtschaftlicher Techniken, durch eine bessere Krankheitsbekämpfung und auf vielfältige andere Weise können die Naturwissenschaften die Entwicklungsmöglichkeiten ausweiten. In geringerem Maße werden die sozialwissenschaftliche Forschung, die Geisteswissenschaften und die Künste anerkannt; sie sind gleichwohl von eminenter Bedeutung. Nicht nur bereichern sie das menschliche Dasein, was seit jeher eingeräumt wird, sie werfen auch ein neues Licht auf viele der Grundvoraussetzungen und Erfordernisse des Lebens in der menschlichen Gemeinschaft in der ganzen Vielfalt ihrer Ausprägungen.

150. Basisorganisationen, wie etwa religiöse Gemeinschaften, Bürgergruppen und Selbsthilfevereine, verstehen, daß wirtschaftliche, soziale, menschliche und bestandfähige Entwicklung einander gegenseitig bedingen. Da sie sich den Bedürfnissen kleiner, sonst vielfach außer acht gelassener Gruppen widmen, können hier andere von ihnen lernen. Basisorganisationen und Bürgergruppen sind für gewöhnlich nur unzureichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet und bedürfen oft der technischen Unterstützung. Obwohl solche Mittel vorzugsweise lokal aufgebracht werden sollten, können die Vereinten Nationen auf der Mikroebene ablaufende Aktivitäten durch die Unterstützung von Basisorganisationen fördern.

151. Allein die Zahl der heute im Entwicklungsprozeß tätigen Akteure, die weltweiten Tendenzen, die in ihren Aktivitäten zum Ausdruck kommen, und das Ineinandergreifen der Probleme und Lösungsmechanismen machen deutlich, wie dringend es einer entsprechenden Bewußtseinsbildung und eines entschlosseneren Engagements bedarf.


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