Agenda für Entwicklung


IV. ZUM ABSCHLUSS: DIE VERHEISSUNG DER ENTWICKLUNG

231. Als Ergebnis großer, mühevoller Anstrengungen ist eine Kultur der Entwicklung im Entstehen begriffen, in der jede wichtige Dimension des Lebens als ein Aspekt der Entwicklung verstanden wird. Noch nie waren die Möglichkeiten zur gegenseitigen Verständigung und zu einem gemeinschaftlichen, koordinierten Handeln so greifbar wie jetzt.

232. In den letzten Jahren ist nahezu allgemein die Notwendigkeit erkannt worden, erneut zu prüfen, wie in einem radikal veränderten globalen Umfeld die Ziele des Friedens, der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Fortschritts verfolgt werden können. Eine Kultur der Entwicklung kann diese Ziele in einer einheitlichen, umfassenden Vision und einem Handlungsrahmen zusammenfassen. Das grundlegende Bekenntnis der Charta zu "Würde und Wert der menschlichen Person" bildet die Basis dieser Kultur. Die Institution der Vereinten Nationen ist unersetzbar.

233. Entwicklung muß auf die einzelnen Menschen ausgerichtet sein. Darüber hinaus muß die Erkenntnis Platz greifen, daß die Gemeinschaft der Menschen auch die kommenden Generationen einschließt. Der Verlauf dieses Jahrhunderts hat gezeigt, welche katastrophalen Folgen es hat, wenn von den Menschen verlangt wird, zugunsten einer utopischen Zukunft Opfer auf sich zu nehmen, oder wenn die gerade lebende Generation das Wohl derjenigen, die erst geboren werden, außer acht läßt. Das eine Extrem hat die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts gekennzeichnet, das andere hat uns erst in jüngerer Zeit den Blick verstellt.

234. Es lassen sich Anzeichen dafür beobachten, daß wir uns in einer globalen Ära der Entwicklung befinden. Doch sind sie mit Widersprüchen behaftet. An die Grüne Revolution und die industrielle Revolution schließt sich nunmehr ein Zeitalter der Information, Kommunikation und Spitzentechnologie an. Dies eröffnet die Aussicht darauf, daß die Menschheit frei wird von den Schranken der Zeit, des Raums und der Ressourcen, die in der Vergangenheit als gegeben angesehen wurden. Gleichzeitig werden diese Veränderungen jedoch von alten Kräften begleitet, die die Situation des Menschen neuen Belastungen aussetzen: Naturkatastrophen und vom Menschen verursachte Katastrophen, Überbevölkerung, Krankheit, politische Konfrontation, kulturelle und religiöse Gegensätze, Arbeitslosigkeit und ökologischer Verfall. Diese Übel sind so alt wie die Menschheit selbst, sie haben aber neue, virulente Formen angenommen und treten in neuen Verbindungen auf.

235. Wurde Entwicklung früher so verstanden, als beschränke sie sich auf die Weitergabe von Finanzmitteln und Know-how von den Besitzenden an die Besitzlosen, hat der Begriff inzwischen eine Ausweitung erfahren und erstreckt sich heute auf das gesamte Spektrum der menschlichen Betätigung. Das Wohl der künftigen Generationen darf nicht durch Hypotheken aufs Spiel gesetzt werden, seien sie finanzieller, sozialer, demographischer oder umweltbezogener Art, die nicht zurückgezahlt werden können. Von gleicher Bedeutung ist die Einsicht, daß die heutigen Bewohner der Erde dafür verantwortlich sind, die mühsam errungenen Ideen, Ideale und Institutionen, die unsere Vorfahren an uns weitergegeben haben, auf die bestmögliche Weise zu nutzen. Fortschritt ist im menschlichen Leben kein Naturgesetz; Rückschritt ist keineswegs undenkbar.

236. Wenn die menschliche Gemeinschaft weiter voranschreiten soll, gilt es, auf dem Ererbten behutsam aufzubauen, zu erkennen, daß die jeweiligen Errungenschaften allen zugänglich sein müssen, und sicherzustellen, daß das, was wir unseren Nachfahren hinterlassen, nicht Stückwerk bleibt, sondern eine Ausgangsbasis für künftige Fortschritte bildet. Hier darf es nicht bei bloßer Rhetorik bleiben. In diesem Sinne ist dem vorliegenden Bericht im Anhang eine Bestandsaufnahme der Entwicklungsarbeit der Vereinten Nationen beigefügt (siehe die Anhänge I und II).

237. Ob diese Vision verwirklicht wird, wird an dem gemessen werden, was die Völker der Welt und ihre Führer während der jetzigen Generationenspanne aus den Vereinten Nationen machen oder zu machen verabsäumen. In einer Sternstunde der Einmütigkeit geschaffen, Zielen dienend, die noch größer sind, als ihre Gründer dies zu erfassen vermochten, konkreter Ausdruck der besten und umfassendsten Bestrebungen der Völker der Welt und ausgestattet mit den für die Erzielung praktischer Ergebnisse gebotenen Voraussetzungen steht die Organisation am Schnittpunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

238. Die Komplexität der gegenwärtigen Weltkrise muß in ihrer Gesamtheit verstanden werden, bevor ein wirksames Handeln zu ihrer Lösung möglich ist. Die Ideen der kollektiven Sicherheit, der grundlegenden Menschenrechte, des Völkerrechts und des sozialen Fortschritts für alle werden durch Ethnozentrismus, Isolationismus, kulturelle Animositäten und wirtschaftlichen und sozialen Niedergang ausgehöhlt. Sogar der Begriff des Staates als des Ecksteins der internationalen Zusammenarbeit wird von denjenigen untergraben, die ihn nach Kriterien der Ausgrenzung definieren, und von anderen, die Relevanz und Nutzen des Staates für die heutige Zeit in Frage stellen.

239. Diese besorgniserregenden Tatsachen stehen in einem Kontext des beispiellosen globalen Wandels. Ökologische, technologische, demographische und soziale Veränderungen scheinen sich traditionellen Formen der internationalen Steuerung zu entziehen. Angesichts dieser Herausforderung sprechen sich manche sogar dafür aus, das moderne Vorhaben der internationalen Zusammenarbeit aufzugeben und zu Machtpolitik, Einflußsphären und anderen diskreditierten und gefährlichen Methoden der Vergangenheit zurückzukehren.

240. Dies darf nicht zugelassen werden. Als Schlüsselmechanismus für die internationale Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten besitzen die Vereinten Nationen die erforderliche Flexibilität und Legitimität und verfügen dabei über einen weltweiten Aktionsradius. Wenn sie umsichtig, wirkungsvoll und mit Zuversicht eingesetzt werden, sind die Vereinten Nationen das beste Instrument, das zur Verfügung steht, um die Situation in der Welt mit einigermaßen guter Aussicht auf Erfolg zu bewältigen.

241. Derzeit wird dieser Mechanismus an seiner vollen Entfaltung gehindert. Diejenigen, die einen Verlust einzelstaatlicher Kontrolle befürchten, stehen dem Multilateralismus abwehrend gegenüber. Andere, die Zweifel daran haben, daß die von ihnen entrichteten Beiträge auch ihren eigenen Interessen dienlich sind, stellen nur widerstrebend die finanziellen Mittel zur Verwirklichung vereinbarter Ziele zur Verfügung. Andere wiederum, die bei schwierigen Einsätzen die Gewähr völliger Klarheit und zeitlicher Begrenzung verlangen, sind nicht willens, sich an solchen Einsätzen zu beteiligen.

242. Ohne eine neue und bezwingende kollektive Vision wird es der internationalen Gemeinschaft nicht möglich sein, sich aus diesem Dilemma zu befreien. Der vorliegende Bericht ist daher als ein erster Beitrag zu der Suche nach einer mit neuem Leben erfüllten Vision der Entwicklung gedacht.

243. Ich habe in diesem Bericht das Wesen und den Umfang der Entwicklungsbemühungen dargestellt. In der Hoffnung, daß sich schließlich eine neue Entwicklungsvision und Entwicklungskultur herausbilden wird, habe ich sowohl die Dimensionen des Entwicklungsprozesses als auch die daran beteiligten Akteure beschrieben. Eine solche Vision muß sich jedoch auf ein festes Fundament einvernehmlicher Zielsetzungen und Verpflichtungen im Entwicklungsbereich, die von der internationalen Gemeinschaft beschlossen werden, sowie auf nachweisliche Ergebnisse stützen können, wenn sie auf Dauer Unterstützung finden soll. Die Vereinten Nationen können solche Ergebnisse vorweisen. Darüber hinaus schlagen für die Vereinten Nationen nicht nur die beispiellose Breite ihres Wirkungsbereichs, sondern auch ihre einzigartigen Möglichkeiten zu Buche, die vielen Akteure und Dimensionen der Entwicklung zu integrieren.

244. Soll diese Verheißung erfüllt werden, so müssen alle Organe und Einrichtungen voll die ihnen in der Charta zugewiesene Rolle übernehmen - Rollen, die klar umrissen, bislang aber nicht in jedem Fall gänzlich im Sinne der ursprünglichen Intention wahrgenommen worden sind.

245. Geleitet von den Zielen und grundlegenden Prinzipien der Charta und eingedenk der von der Generalversammlung beschlossenen Verpflichtungen und Ziele kann die internationale Gemeinschaft nun darangehen, eine neue Vision der Entwicklung zu artikulieren. Wenn sich alle Völker praktisch auf die Förderung einer neuen Kultur der Entwicklung verpflichten, wird die bevorstehende Feier des ersten halben Jahrhunderts der Vereinten Nationen zu einem Wendepunkt in der Geschichte der gesamten Menschheit werden.


Anhang I
Annex I
Agenda für Entwicklung, Inhalt
Agenda for Development, Table of contents