Bericht des Generalsekretärs 1995, Inhalt
Report of the Secretary-General 1995, Table of contents


Bericht des Generalsekretärs über die Tätigkeit der Vereinten Nationen


V. Schluß

989. Von der an den Grundlagen ansetzenden, breitgespannten Arbeit der Vereinten Nationen im Dienste des wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Fortschritts bis zu den unmittelbaren, mit großer Dringlichkeit unternommenen Bemühungen um die Verhütung, Eindämmung und Beilegung von Konflikten zeichnen die Seiten dieses Berichts das Bild einer facettenreichen, in ständiger Weiterentwicklung begriffenen Organisation, die flexibel auf den globalen Wandel und die sich verändernden Bedürfnisse der internationalen Gemeinschaft eingeht.

990. Es gibt Anzeichen dafür, daß die intensIVe Aufklärungsarbeit, die in diesem fünfzigsten Jubiläumsjahr auf allen Ebenen der einzelstaatlichen und der internationalen Gesellschaft unternommen wird, dazu beiträgt, daß die Rolle, die den Vereinten Nationen heute in den internationalen Angelegenheiten zukommt, mit begrüßenswertem Realismus gesehen wird, daß aber auch das Engagement wieder wach wird, die vor 50 Jahren in der Charta festgehaltene ursprüngliche Verheißung Wirklichkeit werden zu lassen.

991. Wichtige Veranstaltungen im Rahmen des Jubiläumsjahres liegen noch vor uns, so etwa die vom 22. bis 24. Oktober 1995 am Amtssitz stattfindende Gedenksondersitzung der Generalversammlung und die für Januar 1996 in London anberaumten Feierlichkeiten zum Gedenken an die erste Tagung der Generalversammlung. Dennoch steht schon jetzt fest, daß dieser Jahrestag eine Atmosphäre geschaffen und eine Dynamik ausgelöst hat, die weit über die bloßen Gedenkfeierlichkeiten hinausgehen, die zu einem solchen Zeitpunkt üblich sind. Nahezu jeder Teilbereich der Vereinten Nationen wurde mit neuem Leben erfüllt. Neue Realitäten dienen als Grundlage für neue Bewertungen und Konzepte. Erfolge bilden das Fundament für weitere Bemühungen. Ein neuer Geist der Zusammenarbeit durchdringt alle Ebenen und fast alle Fragenkomplexe und kommt einem Kreis engagierter Menschen zugute, der nie zuvor so groß gewesen ist.

992. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, daß der Geist des fünfzigsten Jahrestages fortbesteht, was alle diese verschiedenen Tätigkeitsfelder angeht. Vor allem wird es darauf ankommen, die großen Maßnahmen weiterzuführen, die in diesem Jahr eingeleitet worden sind, um die Vereinten Nationen als Institution in die Lage zu versetzen, geistig kreatIVer, finanziell stabiler und in bezug auf ihre Führung leistungsfähiger zu werden und auf alle Teile der Gesellschaft stärker einzugehen.

993. Das fünfzigste Jahr hat indessen auch Kritik an den Vereinten Nationen wach werden lassen. Diese hilft, die Organisation gesünder und stärker zu machen. Mängel der Organisation selbst, unzulängliche Aufgabenstellungen, unzureichende finanzielle und materielle Mittel, das Versäumnis der Mitgliedstaaten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen oder neue Aufgaben zu übernehmen - an allen diesen Dingen hat sich gelegentlich Kritik entzündet. Letztlich ist allerdings die Ursache für die heutige Kritik in den Auswirkungen der Globalisierung auf die Organisation und ihre Mitgliedstaaten zu sehen: bei der zunehmenden Zahl der Aufgaben, die den Vereinten Nationen übertragen werden, und dem erweiterten Aktionsradius ist es gar nicht zu vermeiden, daß auch die Kritik lauter wird. Zugleich kann die Globalisierung die Bereitschaft zu einer aktIVeren Teilnahme hemmen und Furcht und Isolationismus stärken; eine von solchen Empfindungen getragene Kritik kann zu gefährlichen Fehleinschätzungen führen.

994. Gesunde Kritik ist eine unverzichtbare Form der Mitarbeit in den Vereinten Nationen und der Unterstützung der Organisation bei ihren Bemühungen um die Neubelebung des internationalen Systems. Dieser Bericht selbst ist ein Beispiel für die Bemühungen um Transparenz, führt er doch dem größtmöglichen Kreis von Lesern die Stärken wie auch die Schwächen der Organisation vor Augen. Die auch weiterhin erhobenen Forderungen nach Reformen ebenso wie auch die bereits beschlossenen und im Gang befindlichen Reformen machen deutlich, daß weit mehr Menschen als je zuvor erkannt haben, daß die Vereinten Nationen ein wahrhaft unverzichtbarer Bestandteil der internationalen Angelegenheiten sind und daß es - würde es sie heute nicht geben - unmöglich wäre, sie unter den gegenwärtigen Bedingungen zu schaffen. Es gilt daher, das Vermächtnis des Jahres 1945 in Ehren zu halten und weiter darauf aufzubauen. Gleichzeitig müssen bewährte Verfahren so modifiziert werden, daß sie den Herausforderungen einer neuen Ära gewachsen sind.

995. Selbstbesinnung und Reform sind für diese Organisation nichts Neues. Wie von ihren Gründern vorgesehen, haben sich die Vereinten Nationen im Laufe der Zeit weiterentwickelt und an neue Bedingungen angepaßt, stets geleitet von dem Ziel, für den einzelnen Menschen ein besseres Leben und für die gesamte Menschheit eine bessere Welt zu schaffen. Dadurch, daß der fünfzigste Jahrestag an einer solchen Wegscheide in der Geschichte der internationalen Beziehungen stattfindet, verbindet sich damit eine einzigartige Gelegenheit für Veränderungen. Als Generalsekretär habe ich mich von Anfang an dem Ziel der Reform tief verpflichtet gefühlt und mich ihm intensIV gewidmet. Wenn ich indessen Rückschau halte über die in den letzten dreieinhalb Jahren unternommenen Veränderungsbemühungen und die im Berichtszeitraum getroffenen wichtigen Managemententscheidungen, so bin ich der Ansicht, daß auch im bevorstehenden Zeitraum weitere einschneidende Reformen nötig sind.

996. Das von den Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrienationen und dem Präsidenten der Europäischen Kommission im Anschluß an ihren einundzwanzigsten jährlichen Wirtschaftsgipfel in Halifax verabschiedete Kommuniqué enthielt Anregungen zur Steigerung der Wirksamkeit und Kohärenz des Systems der Vereinten Nationen im wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Bereich sowie auf humanitärem Gebiet. Die Teilnehmer des Gipfels in Halifax bekundeten ihre Absicht, die anläßlich des fünfzigsten Jahrestages der Vereinten Nationen vom 22. bis 24. Oktober 1995 in New York stattfindende Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs zu nutzen, um einen Konsens in der Frage herbeizuführen, wie dem System der Vereinten Nationen geholfen werden kann, den Herausforderungen des nächsten Jahrhunderts zu begegnen.

997. Während des ganzen fünfzigsten Jubiläumsjahres ist auf Konferenzen, Seminaren und Lehrgängen, die auf allen Ebenen und in allen Teilen der Welt stattgefunden haben, über die künftige Rolle und die künftigen Aufgaben der Vereinten Nationen nachgedacht worden. Zwei unabhängige Kommissionen gaben Berichte heraus: den Bericht "The United Nations in its Second Half-Century" (Die Vereinten Nationen in ihren nächsten 50 Jahren), erstellt von einer unabhängigen Arbeitsgruppe unter dem gemeinsamen Vorsitz von Richard von Weizsäcker und Moeen Qureshi, der auf mein Ersuchen hin von der Ford-Stiftung gefördert und von der UnIVersität Yale unterstützt wurde, und den Bericht "Our Global Neighbourhood" (Nachbarn in einer Welt), der von der Kommission für Weltordnungspolitik unter dem gemeinsamen Vorsitz von Ingvar Carlsson und Shridath Ramphal ausgearbeitet wurde. Auch das South Center hat sich aktIV mit verschiedenen Aspekten der Reform befaßt.

998. Diese Vorhaben und Verpflichtungen verdienen die Anerkennung und ernste Zuwendung der internationalen Gemeinschaft. Es haben bereits Gespräche stattgefunden, bei denen es um die Einsetzung einer hochrangigen, allen Mitgliedstaaten offenstehenden Arbeitsgruppe der Generalversammlung ging, deren Aufgabe es wäre, sich eingehend mit allen einschlägigen Dokumenten der Vereinten Nationen, den von den Mitgliedstaaten eingereichten diesbezüglichen Unterlagen und den unabhängigen Studien und Berichten über die Neubelebung, Stärkung und Reform des Systems der Vereinten Nationen zu befassen.

999. Die in diesem Bericht erfaßten Tage, Wochen und Monate waren angefüllt mit entmutigenden Entwicklungen. Legt man jedoch eine größere, längerfristige PerspektIVe zugrunde, so weisen viele Anzeichen darauf hin, daß Fortschritte trotz allem durchaus möglich sind, was uns wiederum zuversichtlich macht, daß wir unser Ziel auf lange Sicht erreichen können. Nie zuvor haben sich so viele mutige und engagierte Menschen für die Verbesserung der Welt eingesetzt. Nie zuvor haben die Nationen so klar erkannt, daß ihre Geschicke unauflöslich miteinander verknüpft sind. Und nie zuvor war es so offensichtlich, daß allseitig nutzbringende, der Kooperation dienende internationale Institutionen - an erster Stelle die Vereinten Nationen - eine unverzichtbare globale Notwendigkeit sind.

1000. Wir müssen uns daher unbedingt der Realität bewußt bleiben, daß wir uns schrittweise dem von uns langfristig angestrebten Ziel nähern, und dürfen uns von momentanen Schwierigkeiten keinesfalls so verunsichern lassen, daß die bereits erzielte positIVe Dynamik geschwächt wird.

1001. Es gibt allerdings drei unmittelbare Probleme, mit denen wir uns intensIV befassen müssen, denn sie können den Vereinten Nationen als Instrument des Fortschritts nichtwiedergutzumachenden Schaden zufügen, wenn sie nicht ein für alle Mal behoben werden.

1002. Erstens muß bei Feldeinsätzen die Sicherheit und Unversehrtheit des Personals der Vereinten Nationen respektiert werden. Wenn leichtbewaffnete Friedenssoldaten oder unbewaffnete Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die eine humanitäre Mission erfüllen, bedroht, in Geiselhaft genommen, verletzt oder sogar getötet werden, dann muß die Welt handeln, um solch ein unannehmbares Verhalten zu verhindern. Die Glaubwürdigkeit aller Friedenseinsätze der Vereinten Nationen steht auf dem Spiel; um sie zu erhalten, muß das Personal bei der Wahrnehmung der ihm von der internationalen Gemeinschaft übertragenen Aufgaben geschützt werden.

1003. Zweitens muß die Finanzierung der Organisation auf eine angemessene und bestandfähige Grundlage gestellt werden. Es ist unsinnig, von den Vereinten Nationen unter Bedingungen akuter Mittelknappheit immer größere EffektIVität zu verlangen. Dies wäre so, als ob man die städtische Feuerwehr aussenden wollte, um gleichzeitig an verschiedenen Stellen tobende Brände zu löschen, während man noch Geld sammelt, um die Löschausrüstung zu kaufen. Die ständige Verschlechterung der finanziellen Lage der Organisation muß ein Ende haben.

1004. Schließlich ist noch das Problem zu nennen, daß für die Entwicklung immer weniger Mittel zur Verfügung stehen. Zurückzuführen ist dies auf das Ende des mit dem Kalten Krieg einhergehenden Wettstreits, auf das Wetteifern zwischen Friedenssicherung und Entwicklung um die knappen Ressourcen und auf die nachlassende Zahlungsbereitschaft der Geber in Anbetracht der zur Erzielung von Fortschritten notwendigen Zeit und damit verbundenen Schwierigkeiten. Die Bereitschaft, Geld auszugeben, um zu versuchen, in der ganzen Welt Konflikte einzudämmen, ist zwar notwendig und bewundernswert, genügt allein jedoch nicht. Wenn nicht gleichzeitig Mittel für die Entwicklung zur Verfügung gestellt werden, kann die Welt nichts anderes erwarten als einen Circulus vitiosus, der geprägt ist von dem Wechsel zwischen furchtbaren kriegerischen Auseinandersetzungen, einem unruhigen Patt und neuerlichen Auseinandersetzungen. Soll diese Abwärtsspirale zum Stillstand kommen, so muß überall eine bestandfähige menschliche Entwicklung eingeleitet werden. Eine neue Vision der Entwicklung und ein unIVersales Bekenntnis zu ihr sind unerläßlich, wenn die Welt die von allen Völkern erstrebten Fortschritte erzielen soll.

1005. Im vergangenen Jahr mußten wir in allzu vielen Fällen mit ansehen, wie unschuldige Zivilpersonen, insbesondere Frauen und Kinder, ihr Leben lassen oder unter furchtbaren Bedingungen weiter ihr Leben fristen mußten. Auch weiterhin werden wir Zeugen von Situationen, in denen Flüchtlinge ihrer grundlegendsten Rechte beraubt werden und verzweifelt um ihr Überleben kämpften. Hunderte Millionen Menschen leben in so tiefer Armut, daß sie gar nicht fähig sind, wirksame Maßnahmen zur Verbesserung ihres Loses zu unternehmen. Somit muß erst bewiesen werden, daß es eine wahrhaft internationale Gemeinschaft gibt. Nichts könnte mehr dazu beitragen, daß ein solches Instrument der mitmenschlichen Solidarität Gestalt annimmt, als wenn heute die Verpflichtung eingegangen würde, an der Schwelle des nächsten Jahrhunderts entschlossen dafür Sorge zu tragen, daß alle armen Länder auf den Pfad der Entwicklung geführt werden. Eine solche Leistung würde einen Großteil unserer Mitmenschen aus Erniedrigung und Verzweiflung befreien und wäre eines der dramatischsten Fortschrittskapitel der Weltgeschichte.

1006. Es bietet sich uns heute die Chance, den stufenweise voranschreitenden Reformprozeß mit einer umfassenden Vision der Zukunft zu verbinden. Am Ende dieses ersten halben Jahrhunderts sollten wir uns von dem Vermächtnis der Gründer leiten lassen, wenn wir uns mit Stolz dieser Herausforderung stellen. Gemeinsam kann es uns gelingen, die Welt der Charta in unsere heutige Welt einzubringen.


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