Agenda für Entwicklung
III. Die Vereinten Nationen und der Entwicklungsprozeß


C. Regeln, Normen und Verträge

172. Positive internationale Maßnahmen lassen sich nur durch Zusammenarbeit erreichen. Das Völkerrecht bietet die Mittel und den Rahmen, die es ermöglichen, Ideen und Absichten in Maßnahmen umzusetzen. Durch die Kodifizierung der für die internationalen Akteure geltenden Rechte, Pflichten, Obliegenheiten und Grundsätze liefert das Völkerrecht nicht nur die eigentlichen Grundlagen der Zusammenarbeit, sondern es legt auch die Bedingungen und die Beschränkungen fest, denen diese Zusammenarbeit unterliegt.

173. Multilaterales Einvernehmen herzustellen liegt im Wesen des Völkerrechts, ob in Gestalt nichtverbindlicher Regeln, international anerkannter Normen oder bindender Verpflichtungen. Multilaterale Übereinkünfte können dadurch, daß sie den politischen Stellenwert von Fragen anheben und diese stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken, das Interesse wachrütteln und zum Kristallisationspunkt für Maßnahmen werden. Indem sie einen gemeinsamen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Problemen schaffen, können multilaterale Übereinkünfte zu verbesserter Koordinierung und größerer Kohärenz führen. Durch die Aufstellung gemeinsamer Parameter und Grundregeln können multilaterale Übereinkünfte den internationalen Verkehr und Austausch erleichtern. Durch die Schaffung eines gemeinsamen rechtlichen und politischen Handlungsrahmens können multilaterale Übereinkünfte eine feste Grundlage bereitstellen, von der aus sich internationale Bemühungen bewerten und überwachen lassen. Als praktische Mechanismen zur Konsensbildung und zur Verfolgung von Lösungen sind multilaterale Übereinkünfte der Schlüssel für sinnvolle internationale Maßnahmen zugunsten der Entwicklung.

174. Die Generalversammlung hat zahlreiche wichtige Beiträge zur Schaffung eines internationalen Rahmens für die Entwicklungszusammenarbeit geleistet. Die Resolution 47/181 der Generalversammlung über eine Agenda für Entwicklung verweist in diesem Zusammenhang auf die "Erklärung über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, insbesondere über die Neubelebung des Wirtschaftswachstums und der Entwicklung in den Entwicklungsländern", die Internationale Entwicklungsstrategie für die Vierte Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen, die Verpflichtung von Cartagena, die Neue Agenda der Vereinten Nationen für die Entwicklung Afrikas in den neunziger Jahren, das Aktionsprogramm für die neunziger Jahre zugunsten der am wenigsten entwickelten Länder und die auf der Rio-Konferenz verabschiedeten Konsensübereinkünfte, namentlich die Agenda 21.

175. Das Interesse wachzurütteln und zum Kristallisationspunkt für Maßnahmen zu werden, ist sowohl das Ziel als auch das Ergebnis zahlreicher multilateraler Übereinkünfte. Der Prozeß der Konsensbildung und Kodifizierung verleiht wichtigen Fragen insoweit größeren politischen Stellenwert, als Staaten und Interessengruppen bemüht sind, ihre jeweiligen Interessen, Blickwinkel und Zielvorstellungen mit Hilfe des geplanten Übereinkommens zu fördern und zu verteidigen. Oft rückt die internationale Debatte und Diskussion den zur Rede stehenden Fragenkomplex stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit, bewirkt dabei eine Bewußtseinsbildung und weckt neues Interesse und Engagement.

176. Die Verträge, Übereinkünfte und Normen, die im Zusammenhang mit dem Umweltgipfel von Rio verabschiedet wurden, sind beispielhaft für die Breitenwirkung, die der Prozeß der internationalen Konsensbildung und Kodifizierung haben kann. Jahrelange Untersuchungen und Vorbereitungen, die Katalysatorwirkung einer weltweiten Zusammenkunft auf höchster Ebene und das Bestreben, konkrete Maßnahmen und Verpflichtungen zu kodifizieren, haben dazu geführt, daß die dringende Notwendigkeit, die weitere Verschlechterung unserer Umwelt aufzuhalten, und die überragende Bedeutung einer umweltgerechten und ökologisch bestandfähigen Entwicklung heute Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit sind. Dadurch, daß im Zuge dieses Prozesses Umweltanliegen weltweit auf die Tagesordnung der Staaten gesetzt wurden, und dies in einer Weise, die die Staaten dazu gezwungen hat, sich mit Vorschriften und Vorschlägen auseinanderzusetzen, hat der Prozeß nutzbringende und außerordentlich notwendige Maßnahmen hervorgebracht, weltweit das Bewußtsein der Öffentlichkeit für Umweltbelange geschärft und in der ganzen Welt zu nützlichen Neubewertungen der staatlichen Maßnahmen in vielen der vordringlichsten Themenbereiche geführt.

177. Multilaterale Übereinkünfte können nicht nur Interesse wachrütteln und die Meinungsbildung provozieren, sondern auch als Kristallisationspunkt für Maßnahmen dienen. So bietet etwa das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen [Official Records of the Third United Nations Conference on the Law of the Sea, Vol. XVII (Veröffentlichung der Vereinten Nationen, Best.-Nr. E.84.V.3), Dokument A/CONF.62/122.] heute ein Instrumentarium für die Auseinandersetzung mit Entwicklungsfragen im Zusammenhang mit allen Aspekten der Nutzung des Meeres und seiner Ressourcen. Mit der gestiegenen Fähigkeit der Nationen, die Naturschätze des Meeres auszubeuten, die durch neue Technologien und den Hunger nach neuen Ressourcen beflügelt wird, bietet das Übereinkommen einen allgemeingültigen rechtlichen Rahmen für die rationale Bewirtschaftung der Meeresressourcen und einen einvernehmlichen Katalog von Grundsätzen, die der Behandlung der zahlreichen, auch künftig zu erwartenden Fragen und Herausforderungen zugrundegelegt werden können. Für Fragen angefangen von der Schiffahrt und dem Überflug sowie der Exploration und Ausbeutung der Ressourcen über Erhaltungsmaßnahmen und Verschmutzung bis hin zur Fischerei und dem Seetransport bildet das Übereinkommen einen Angelpunkt für internationale Beratungen und entsprechende Maßnahmen.

178. Zu den internationalen humanitären Anstrengungen, die im Kontext der internationalen Zusammenarbeit innerhalb des Rahmens multilateraler Übereinkommen und Vereinbarungen unternommen werden, gehören Maßnahmen wie die Einrichtung von "Nothilfekorridoren", die zunehmende Heranziehung von Friedenssicherungspersonal der Vereinten Nationen für humanitäre Missionen, die Verhinderung von Massakern unter unschuldigen Zivilisten, die Untersuchung behaupteter Verstöße gegen das Völkerrecht und die Erleichterung der nationalen Aussöhnung. Durch die Anwendung internationaler humanitärer Regeln, Übereinkünfte und Normen mit dem Ziel, die praktischen Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit zu stärken, hat die internationale Gemeinschaft das große Potential offenkundig gemacht, das multilaterale Übereinkünfte besitzen, um als Katalysator für Maßnahmen und als Mechanismus zur Erzielung von Ergebnissen zu dienen.

179. Ein weiterer fester Bestandteil der entwicklungsfördernden Rolle des Völkerrechts ist seine Fähigkeit, zu einer besseren Koordinierung bei der Ausführung von Politiken beizutragen und die Kohärenz bei der Aufstellung und Gestaltung von Politiken zu fördern. Mittelbar und unmittelbar tragen multilaterale Regeln, Normen und Verträge dazu bei, diese Ziele auf konkrete und sinnvolle Weise zu fördern.

180. Eine Koordinierung ist zweifellos immer dann erstrebenswert, wenn durch isoliertes Vorgehen keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielt werden können oder wenn die Zusammenarbeit mit anderen die Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen deutlich verbessern könnte. Bei der Regulierung des internationalen Luftverkehrs beispielsweise wären einzelstaatliche Maßnahmen unwirksam. Gleichermaßen läßt sich ein weiterer Abbau der Ozonschicht nur verhindern, wenn einzelstaatliche Anstrengungen und Maßnahmen koordiniert werden. Multilaterale Übereinkünfte über diese Fragen sind naturgemäß ein wichtiger Mechanismus für das Zustandekommen einer Koordinierung.

181. Die Förderung von Kohärenz und Kompatibilität der internationalen politischen Grundsatzentscheidungen ist ein eng damit verbundenes und ebenso wichtiges Ziel. Insofern multilaterale Übereinkünfte bestimmte grundsatzpolitische Alternativen ausschließen und andere wieder fördern, und durch Kompromiß und Konsensbildung den Spielraum für abweichende Politikstrategien einengen, begünstigen sie Kohärenz und Kompatibilität der internationalen politischen Grundsatzentscheidungen. Die Belohnung bestimmter Praktiken und die Bestrafung anderer, das Verbot bestimmter Maßnahmen und die Förderung anderer, die Festschreibung bestimmter Grundsätze und die Ablehnung anderer sind die Mechanismen, durch welche Regeln, Normen und Verträge sich Wirksamkeit verschaffen und durch die größere Kohärenz und Kompatibilität der Politik hergestellt wird.

182. Durch die Förderung der biologischen Vielfalt zum Beispiel geben multilaterale Umweltübereinkünfte notwendigerweise bestimmten einzelstaatlichen Entwicklungsalternativen und -politiken Vorrang, während sie andere beschränken oder ganz ausschalten. Durch die Festlegung von Grenzwerten für Schadstoffemissionen geben multilaterale Übereinkünfte notwendigerweise einer Kategorie von Politiken Vorrang, die darauf ausgelegt sind, bestimmte Betätigungen oder den Umfang bestimmter Tätigkeiten zu beschränken und Entwicklungs- oder Industriestrategien, die mit solchen Normen unvereinbar wären, von vornherein auszuschließen. In beiden Fällen besteht das Ergebnis in größerer internationaler Kohärenz und Konsequenz der politischen Grundsatzentscheidungen.

183. In einer Welt, in der die Menschen zunehmend auch über Staatsgrenzen hinaus miteinander in Beziehung treten, ist es besonders wünschenswert, daß es Verfahren und Regelungen für privatrechtliche Beziehungen internationaler Art gibt. Die Schaffung gemeinsamer Verfahren und die Einigung auf Regeln zur Behebung von Gesetzeskollisionen ist nicht nur für die Erleichterung des Handels von Nutzen, sondern leistet auch einen beträchtlichen Beitrag zum Aufbau friedlicher und stabiler internationaler Beziehungen. Zusammen erleichtern diese Kooperationsbemühungen die gegenseitigen Beziehungen und die Entwicklung und tragen zur praktischen Kohärenz der Vielfalt von Rechtsvorschriften bei, die von den einzelstaatlichen Rechtsordnungen erzeugt werden.

184. Internationale Übereinkünfte zu bestimmten Einzelfragen befassen sich heute mit einem immer breiteren Spektrum internationaler privatrechtlicher Beziehungen. Im Bereich des Rechts gibt es heute internationale Übereinkünfte über Fragen wie die Zustellung von Ladungen und Klageschriften, die Beweiserhebung, die Vollstreckung von Urteilen und internationale Gesetzeskollisionen. Auf dem Gebiet des Familienrechts sind bedeutende internationale Übereinkünfte ausgehandelt worden. Im Bereich des Handels erleichtern und beschleunigen internationale Übereinkünfte einen breiten Fächer von Tätigkeiten, von Finanzgeschäften bis hin zum internationalen Warenkauf.

185. Welche grundlegende Bedeutung ein gemeinschaftliches Vorgehen besitzt, wird besonders deutlich an den internationalen Bemühungen um die Aufstellung umfassender Regeln und Grundsätze für den Verkehr zwischen den Nationen. Multilaterale Übereinkünfte dienen einer Vielzahl verschiedener Zwecke: der Überwachung der Anwendung internationaler arbeitsrechtlicher Normen, der Regelung der Benutzung von Flugstrecken und der Nutzung internationaler Fernmeldefrequenzen, der Erleichterung des internationalen Postverkehrs, der Beobachtung des Weltklimas und der Förderung des internationalen Austauschs in einem breiten Spektrum anderer wichtiger Bereiche.

186. Auch die derzeitigen Bemühungen, Handelsregeln aufzustellen, die weltweite Akzeptanz genießen, finden in multilateralen Übereinkünften ihren Niederschlag. Über die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) haben die Vereinten Nationen durch die Errichtung des Systems Allgemeiner Zollpräferenzen den Entwicklungsländern geholfen, eine Präferenzbehandlung für ihre Exporte zu erhalten, und die Annahme internationaler Rohstoffübereinkünfte sowie einvernehmlicher Grundsätze für die Kontrolle restriktiver Geschäftspraktiken gefördert. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) und die vor kurzem abgeschlossene Uruguay-Runde der multilateralen Handelsverhandlungen machen deutlich, welche Auswirkungen multilaterale Zusammenarbeit im Hinblick auf Handelserleichterungen und Entwicklungsförderung haben kann. Schätzungen zufolge wird der Welthandel infolge des während der Uruguay-Runde erzielten Übereinkommens um bis zu 50 Milliarden Dollar zunehmen. Der davon ausgehende Impuls wird sich auf Beschäftigung, Produktion und Handel in der gesamten internationalen Gemeinschaft außerordentlich positiv auswirken.

187. Die Uruguay-Runde ist ein anschauliches Beispiel für die entwicklungsfördernden Auswirkungen, die multilaterale Übereinkünfte insofern haben können, als sie den internationalen Handel und Geschäftsverkehr erleichtern, beschleunigen und anregen. Zu den vielen weiteren bedeutsamen Beispielen zählen das Übereinkommen der Vereinten Nationen über den Transithandel von Binnenstaaten, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Güterbeförderung zur See und das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf.

188. Ein weiterer wesentlicher Teilaspekt der Wichtigkeit multilateraler Übereinkünfte ist der, daß sie eine Ausgangsbasis liefern, von der aus internationale Bemühungen, sei es zugunsten der Entwicklung oder auf anderen Gebieten, bewertet und überwacht werden können. Dank internationaler Übereinkünfte ist die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) in der Lage, die arbeitsrechtliche Situation weltweit zu überwachen. Das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen [A/AC.237/18 (Teil II)/Add.1 und Korr.1, Anhang I.] sieht die internationale Überprüfung einzelstaatlicher Politiken, die sich auf Klimaänderungen auswirken, und die internationale Überwachung der Emission von Treibhausgasen vor. In diesen und in vielen anderen Fällen legen multilaterale Übereinkünfte den Grundstein und schaffen die Ausgangsbasis für die Sammlung von Informationen, für die Überwachung vertragskonformen Verhaltens und für die Durchsetzung.

189. Vor allem auf dem Gebiet der Menschenrechte liegt die Bedeutung multilateraler Übereinkünfte, die eine Ausgangsbasis und eine Rechtsgrundlage für die Überwachung und Bewertung des Verhaltens der Staaten schaffen, klar auf der Hand. Übereinkünfte dieser Art bieten nicht nur einen Maßstab, an dem sich dieses Verhalten messen läßt, sondern darüber hinaus auch eine einvernehmliche internationale Grundlage für die Beteiligung an der Überwachung vertragskonformen Verhaltens. Multilaterale Übereinkünfte ermöglichen der internationalen Gemeinschaft somit, auf der Grundlage des Prinzips zu handeln, daß die Menschenwürde ein Anliegen ist, das über einzelstaatliche Grenzen und Besonderheiten hinausgeht.

190. Der Gedanke, daß die Menschenrechte des einzelnen von der internationalen Gemeinschaft geschützt werden können, ist in der Tat eine der großen praktischen und geistigen Leistungen des Völkerrechts. Vermittels der Mechanismen und Verfahren des Völkerrechts bieten die internationalen Regeln, Normen, Pakte und Verträge nunmehr einen Maßstab für die Rechenschaftspflicht und eine rechtliche Grundlage für internationale Maßnahmen zugunsten der Menschenrechte und zugunsten humanitärer Anliegen.

191. Die Einigung über praktische Maßnahmen zur Anwendung gemeinsamer Lösungsansätze ist der Kern dessen, was multilaterale Übereinkünfte zu erreichen suchen. Durch die Schaffung eines Rahmens für die internationale Zusammenarbeit leistet das Völkerrecht einen wichtigen und sehr greifbaren Beitrag zu nahezu allen Aspekten der weltweiten Entwicklung. Durch die Koordinierung unterschiedlicher Politiken und Bemühungen, durch die Förderung von Zielvorstellungen und -werten, durch die Aufstellung von Regeln und Normen und durch die Aushandlung von Verträgen und Übereinkommen bietet sich das Völkerrecht als Instrument der Zusammenarbeit und als Mechanismus für entsprechende Maßnahmen an.

192. Als bedeutendster Fürsprecher des Völkerrechts und als wichtigstes Forum der internationalen Zusammenarbeit kommt den Vereinten Nationen eine zentrale Rolle bei der Ausweitung und Verbesserung der multilateralen Zusammenarbeit zu, namentlich insoweit diese in internationale Regeln, Normen und Vorschriften Eingang findet. Bei der Wahrnehmung dieser Rolle tragen die Vereinten Nationen eine besondere Verantwortung dafür, die effektive Teilhabe aller betroffenen Länder an der Aushandlung, Umsetzung, Überprüfung und Handhabung internationaler Rechtsakte zu fördern und zu unterstützen.


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