Agenda für Entwicklung
III. Die Vereinten Nationen und der Entwicklungsprozeß


B. Informationsarbeit, Bewußtseins- und Konsensbildung

152. Wenn wir uns der globalen Entwicklungsherausforderung stellen wollen, müssen wir dafür sorgen, daß sich die Menschen der vielen Dimensionen der Entwicklung stärker bewußt werden und die Bedeutung der verschiedenen Akteure des Entwicklungsprozesses klarer erkennen. Die Erhöhung des Problembewußtseins und die Herbeiführung eines globalen Konsenses lassen etwas entstehen, was wohl am ehesten als eine "Kultur der Entwicklung" bezeichnet werden kann. Dieser Begriff impliziert mehr als nur den universalen Zugang zu gemeinsamen Informationsnetzen. Wie bereits festgestellt wurde, impliziert eine Kultur der Entwicklung, daß alle Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zur Entwicklung betrachtet werden. Auf der Grundlage dieser universalen Kultur der Entwicklung, die im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert rasch im Entstehen begriffen ist, werden die Vereinten Nationen zu einem immer wirksameren Forum für die Festlegung allgemeingültiger Verhaltensnormen.

153. Als universale Organisation mit umfassender Aufgabenstellung haben die Vereinten Nationen die Aufgabe und die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Welt auf Fragen von allgemeiner Bedeutung zu lenken. Die Vereinten Nationen können dazu beitragen, die Weltöffentlichkeit auf Probleme, die sich einer raschen oder simplen Lösung entziehen, aufmerksam zu machen, darüber zu informieren und ihr Interesse daran wachzuhalten. In den letzten Jahren ist den Vereinten Nationen eine unentbehrliche Funktion dabei zugekommen, auf die Notwendigkeit von Umweltmaßnahmen hinzuweisen, sich mit den Auswirkungen der demographischen Veränderungen auseinanderzusetzen, die Sache der Menschenrechte zu vertreten und die Entwicklungsproblematik in allen ihren Aspekten in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit zu rücken.

154. Gesicherte Ausgangsinformationen sind eine unerläßliche Grundlage für die Festlegung aller Aspekte der Wirtschaftspolitik. Planung und Entscheidungsfindung des Staates und des privaten Sektors können nur dann erfolgreich sein, wenn die zugrundeliegenden Informationen richtig sind und den neuesten Stand repräsentieren. Die Öffentlichkeit kann sich nur dann sinnvoll am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Geschehen beteiligen, wenn sie auch gut informiert ist.

155. Ohne eine ausreichende Informationsgrundlage befinden sich Länder bei bilateralen und multilateralen Verhandlungen im Nachteil. Der Zugang zu Informationen über die weltweiten wirtschaftlichen, demographischen, sozialen und ökologischen Gegebenheiten ist nicht nur für eine sachlich fundierte Entscheidungsfindung, sondern auch für die Wettbewerbsfähigkeit und die erfolgreiche Mitwirkung auf den internationalen Märkten von ausschlaggebender Bedeutung.

156. Da das System der Vereinten Nationen aktiv mit der Sammlung von Daten und Statistiken beschäftigt ist, stellt es für die Mitgliedstaaten eine wichtige, wenngleich mitunter zu wenig genutzte Informationsquelle dar. Bei den Bemühungen, technische Zusammenarbeit bei der Schaffung und Verbesserung von Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen anzubieten, steht das System der Vereinten Nationen von jeher an vorderster Front. Diese Bemühungen werden weithin geschätzt, bedürfen jedoch einer immer aktiveren Unterstützung seitens der Mitgliedstaaten.

157. Die Vereinten Nationen erarbeiten gemeinsame und vergleichbare Methoden der Organisation und Strukturierung von Daten, fördern einheitliche technische Kommunikationsnormen, verbessern die Datensammlungsmethoden, erleichtern zum allseitigen Vorteil den Austausch internationaler Daten und Informationen, sind bei deren Analyse und Evaluierung behilflich und bieten Ausbildungslehrgänge und Hilfe bei der Nutzung der Informationen an.

158. Das System der Vereinten Nationen hat bei der Herbeiführung einer internationalen Zusammenarbeit bei der Sammlung, Analyse und Nutzung von Daten auf den Gebieten Bevölkerungsplanung, Gesundheitsfürsorge, Staatsführung und öffentliche Verwaltung, Schaffung von Arbeitsplätzen, Lohn- und Einkommensfragen und Sozialwesen Pionierarbeit geleistet - alles mit dem Ziel, den Völkern und Staaten sachlich fundierte Entscheidungen zu erleichtern. Die Vereinten Nationen versuchen zur Zeit, den menschlichen Fortschritt auf neue Weise zu quantifizieren, indem sie ein statistisches Bild der menschlichen Entwicklung zeichnen, das über die bloße Messung des Bruttosozialprodukts pro Kopf der Bevölkerung hinausgeht. Der vom UNDP herausgegebene Bericht zur Lage der menschlichen Entwicklung hat dazu geführt, daß die Parameter, mit denen Entwicklung gemessen wird, heute neu durchdacht werden.

159. Verläßliche Statistiken, mit deren Hilfe die Wirtschaftstätigkeit eines Landes überwacht und Veränderungen im Wirtschafts-, Sozial- und Umweltbereich laufend verfolgt werden können, sind für eine fundierte Entscheidungsfindung von ausschlaggebender Bedeutung und eine unverzichtbare Grundlage für die erfolgreiche Entwicklung eines Landes. In Zusammenarbeit mit dem IWF, der Weltbank, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Kommission der Europäischen Union haben die Vereinten Nationen bahnbrechende Arbeit bei der Aufstellung eines neuen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen geleistet, mit dem die Länder nunmehr über einen Rahmen verfügen, der es ihnen ermöglicht, aus ihren Wirtschaftsstatistiken neue Erkenntnisse zu ziehen und die vorhandenen Daten besser zu nutzen.

160. Im Rahmen mehrerer technischer Kooperationsprogramme der Vereinten Nationen werden zur Zeit neue Methoden der Sammlung und Verbreitung von Umweltstatistiken und -indikatoren erprobt. Dies ist besonders wichtig, da sich, was die Verfügbarkeit, Qualität und Kohärenz der Daten sowie den Zugang zu ihnen betrifft, zwischen den Ländern eine immer tiefere Kluft auftut. Informationsdefizite hindern zahlreiche Volkswirtschaften weiterhin daran, in Umwelt- und Entwicklungsfragen sachlich fundierte Entscheidungen zu treffen.

161. Die Sammlung und Analyse von Informationen ist Voraussetzung nicht nur für eine sachlich fundierte Diskussion, sondern auch für die Erarbeitung von annehmbaren und praktikablen Lösungen. Verläßliche und einheitlich präsentierte Informationen liefern eine gemeinsame Sprache, die es allen erlaubt, an der Kultur der Entwicklung mitzuwirken. Wenn Informationen unzuverlässig oder überhaupt nicht verfügbar sind oder aber in unbrauchbarer Form präsentiert werden, läßt sich nur schwer ein Konsens herstellen, und ein erfolgreiches Vorgehen wird höchst unwahrscheinlich.

162. In den letzten Jahren haben globale internationale Konferenzen den Mitgliedstaaten und anderen Gelegenheit geboten, gemeinsam über die großen Weichenstellungen für die Zukunft des Entwicklungsprozesses nachzudenken, wodurch eine vom Konsens bestimmte Kultur der Entwicklung gefördert wurde. Bei diesen globalen Zusammenkünften werden auf höchster Ebene einzelne strategische Fragen herausgegriffen, wodurch es den Mitgliedstaaten ermöglicht wird, ihre einzelstaatliche Politik mit den von der internationalen Gemeinschaft insgesamt gutgeheißenen Wertvorstellungen und Grundsätzen in Einklang zu bringen. Diese Konferenzen sind für die auf internationaler Ebene unternommenen Anstrengungen politisch richtungweisend und verleihen ihnen neue Dynamik, während sie gleichzeitig für Staaten, Organisationen und die einzelnen Menschen eine Quelle der Inspiration und der Ermutigung sind.

163. Der Umweltgipfel von Rio führte zu einer noch nie dagewesenen Verpflichtung der führenden Politiker der Welt auf einen gemeinsamen Zielkatalog für die Zukunft: die Agenda 21 [Report of the United Nations Conference on Environment and Development, Rio de Janeiro, 3-14 June 1992(A/CONF.151/26/Rev.1 (Vol. I und Vol. I/Korr.1, Vol. II und Vol. III und Vol. III/Korr.1)) (Veröffentlichung der Vereinten Nationen, Best.-Nr. E.93.I.8 und Korrigenda), Vol. I: Resolutions adopted by the Conference, Resolution 1, Anhang II.] , die erste internationale Vereinbarung, in der einem weltweiten Konsens in dieser Frage Ausdruck verliehen wird und in der die Staaten sich auf höchster politischer Ebene verpflichten, im Rahmen eines Programms für bestandfähige Entwicklung Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und zugunsten des wirtschaftlichen Fortschritts zu ergreifen. Seit der Rio-Konferenz sind Umweltbelange fester Bestandteil der Kultur der Entwicklung. Die Weltkonferenz über die bestandfähige Entwicklung der kleinen Inselstaaten unter den Entwicklungsländern, die vom 25. April bis 6. Mai 1994 in Barbados stattfand, erbrachte eine weitere Klärung der Aufgaben, die die kleinen Inselstaaten und die internationale Gemeinschaft auf dem Weg zu einer bestandfähigen Entwicklung zu bewältigen haben werden.

164. Die Weltkonferenz über Menschenrechte wurde vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien abgehalten. In der Erklärung und dem Aktionsprogramm von Wien [A/CONF.157/24 (Teil I), Kap. III.] bekräftigte die Konferenz "das Recht auf Entwicklung, wie es in der Erklärung über das Recht auf Entwicklung niedergelegt ist, als universelles und unveräußerliches Recht und als integralen Bestandteil der grundlegenden Menschenrechte". Von der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1948 bis zu ihrem Beschluß, das Amt eines Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zu schaffen, hat die Generalversammlung stets unterstrichen, daß sie die Einhaltung der vereinbarten internationalen Menschenrechtsgrundsätze erwartet.

165. Im September 1994 wird die nach Kairo einberufene Internationale Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung sich mit den Auswirkungen demographischer Faktoren auf die Entwicklung und mit der Aufgabe der Herbeiführung einer Entwicklung, in deren Mittelpunkt wirklich der Mensch steht, befassen.

166. Der Weltgipfel für soziale Entwicklung, der 1995, im fünfzigsten Jahr des Bestehens der Vereinten Nationen, stattfinden wird, könnte zu einer für die ganze Welt bedeutsamen Synthese führen. Die Einsicht wächst, daß in einer gerechten Gesellschaft hohe Arbeitslosigkeit nicht akzeptiert werden kann. Eine stabile Gesellschaft kann nicht zulassen, daß ganzen Gruppen die Früchte der Entwicklung vorenthalten werden. Ohne ein soziales Netz für ihre am stärksten benachteiligten Mitglieder kann eine Gesellschaft nicht sicher sein. Es bedarf entschlossener weltweiter Anstrengungen, um das Bewußtsein für diese Probleme zu schärfen und ein stärkeres politisches Eintreten für wirksame Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene zu erreichen. Der Weltgipfel wird eine einzigartige Gelegenheit bieten, das Erreichte zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen und neue Bereiche aufzuzeigen, die Gegenstand gemeinsamer Anstrengungen werden müssen. Durch eine Stärkung der nationalen und internationalen Institutionen, die mit sozialen Fragen befaßt sind, durch die Erleichterung der Koordinierung ihrer Tätigkeit mit den im wirtschaftlichen Bereich stattfindenden Aktivitäten und durch die Bereitstellung einer angemessenen finanziellen und sonstigen Unterstützung sollte dabei erreicht werden, daß die Aufgaben der sozialen Entwicklung auf dieselbe Stufe gestellt werden wie das wirtschaftliche Wachstum.

167. Der Prozeß wird 1995 in Beijing mit der vierten Weltfrauenkonferenz fortgesetzt. Die Vereinten Nationen haben, weitgehend dank der Bemühungen der 1946 geschaffenen Kommission für die Rechtsstellung der Frau, zur Entwicklung der Rechtsgrundlagen für die Förderung der Gleichberechtigung der Frau beigetragen und waren an vorderster Stelle dabei, wenn es darum ging, Politiken auszuarbeiten, politisches Engagement zu erreichen oder Institutionen aufzubauen. Ein weiterer Meilenstein war die im Jahr 1979 erfolgte Verabschiedung der Konvention über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Inzwischen gehören ihr 132 Vertragsstaaten an, die regelmäßig über die Umsetzung der Konvention Bericht erstatten. In der Konvention über die Rechte des Kindes und in der Wiener Erklärung der Weltkonferenz über Menschenrechte werden ebenfalls institutionelle Normen zur Wahrung der Rechte der Frau im einzelnen ausgeführt. Alle diese Errungenschaften sollten die Grundlage einer Vision für das nächste Jahrhundert bilden, die der jeweiligen Rolle der Geschlechter voll Rechnung trägt.

168. Im Jahre 1996 soll auf der Habitat-II-Konferenz über Wohn- und Siedlungswesen, dem sogenannten "Städtegipfel", ein Aktionsprogramm erörtert werden, mit dessen Hilfe städtische Gebiete, in denen die Mehrheit der Weltbevölkerung leben wird, sicher, human, gesund und erschwinglich gemacht werden sollen.

169. Neben den einzelnen Mitgliedstaaten muß in die internationalen Bemühungen um die Stärkung der weltweiten Kultur der Entwicklung auch die umfassendere internationale Gemeinschaft einbezogen werden. Der Beitrag der nichtstaatlichen Akteure zur Kultur der Entwicklung wurde auf der Konferenz von Rio und bei der Weltkonferenz über Menschenrechte eindeutig unter Beweis gestellt. Nichtstaatliche Organisationen und engagierte Einzelpersonen haben das ihnen zustehende Recht in Anspruch genommen, ebenfalls zur Schaffung einer Kultur der Entwicklung beitragen zu können.

170. Innerhalb der einzelnen Länder spielen Teile der bürgerlichen Gesellschaft - insbesondere politische Parteien, Gewerkschaften, Parlamentarier und nichtstaatliche Organisationen - eine immer wichtigere Rolle, wenn es darum geht, einerseits die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Entwicklungsanstrengungen zu gewinnen und andererseits die Gewährung einer greifbaren Entwicklungshilfe zu erreichen. Es gibt inzwischen ein ganzes Netz nichtoffizieller Gruppierungen und Bewegungen, die dazu beitragen, die Richtung der Entwicklungspolitik zu bestimmen, und die auch praktische Ergebnisse erzielen. Wenn die politische Konsensbildung erfolgreich sein soll, müssen alle Kräfte darin einbezogen werden.

171. Dadurch, daß sie die Initiative ergreifen, daß sie Probleme, die zu besonderer Besorgnis Anlaß geben, herausstellen und realistische Lösungen fördern, können Akteure auf allen Ebenen das Ergebnis der internationalen Bemühungen in der gesamten Bandbreite der Weltprobleme mitgestalten. Erst wenn Menschen und Staaten sich von einer gemeinsamen politischen Vision des Fortschritts leiten lassen und auch den politischen Willen haben, diese Vision zu verwirklichen, kann Bleibendes geschaffen werden.


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