Agenda für Entwicklung
II. Die Dimensionen der Entwicklung


C. Die Umwelt als Grundlage der Bestandfähigkeit

68. Die Umwelt, ebenso wie Frieden, Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie, durchdringt alle Aspekte der Entwicklung und hat Auswirkungen auf Länder jeden Entwicklungsstandes. In den Entwicklungsländern droht der ökologische Druck die langfristige Entwicklung zu untergraben. In vielen Umbruchländern hat das jahrzehntelange Ignorieren der Umweltbelange dazu geführt, daß große Gebiete verseucht sind und dort langfristig keine wirtschaftliche Betätigung möglich ist. In den wohlhabendsten Ländern werden Ressourcen der ganzen Welt durch ein Konsumverhalten erschöpft, das die Zukunft der Weltentwicklung gefährdet.

69. Weder lassen sich die Begriffe Entwicklung und Umwelt losgelöst voneinander betrachten, noch ist eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem einen ohne Bezugnahme auf den anderen möglich. Die Umwelt stellt eine Entwicklungsressource dar. Ihr Zustand ist ein wichtiges Maß für den Entwicklungstand und ihre Erhaltung ein ständiges Anliegen. Eine erfolgreiche Entwicklung erfordert eine Politik, die Umweltgesichtspunkte mit einbezieht. Dieses Junktim wurde 1992 auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio anerkannt. Der Umweltgipfel von Rio ist ein Modell für weitere Bemühungen um größere Kohärenz in der Entwicklung.

70. Die Erhaltung der Verfügbarkeit und die Rationalisierung der Nutzung der natürlichen Ressourcen der Erde gehören zu den dringendsten Fragen, die sich uns Menschen, der Gesellschaft und den Staaten stellen. Die natürlichen Ressourcen eines Landes sind oft das am leichtesten zugängliche und ausbeutbare Entwicklungskapital. Wie gut diese natürlichen Ressourcen bewirtschaftet und geschützt werden, ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung und das Fortschrittspotential einer Gesellschaft.

71. Im Rahmen der Entwicklung muß sich jede Gesellschaft den schwierigen Herausforderungen stellen, die mit dem Schutz des langfristigen Potentials ihrer natürlichen Ressourcen einhergehen. Konkurrierende Bedürfnisse und Interessen müssen in Einklang gebracht werden. Die gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse müssen in einer Weise befriedigt werden, die weder der langfristigen Verfügbarkeit der Ressourcen noch der Tragfähigkeit der Ökosysteme abträglich ist, auf die wir, und die kommenden Generationen, angewiesen sind.

72. Die Umweltzerstörung führt zu einer Minderung der Qualität und der Quantität vieler Ressourcen, die von den Menschen direkt genutzt werden. Wird der Zerstörung der natürlichen Ressourcen nicht die nötige Beachtung geschenkt, können sich die Folgen als katastrophal erweisen. Die Wasserverschmutzung schädigt die Fischereiwirtschaft. Die Versalzung und die Erosion des Mutterbodens reduzieren die Ernteerträge. Die Degradation der Landwirtschaft und die Entwaldung haben zu Dürre und Bodenerosion beigetragen und dazu geführt, daß Mangelernährung und Hungerkatastrophen in bestimmten Regionen immer häufiger auftreten. Überfischung und die Erschöpfung der Meeresressourcen gefährden alteingesessene Gemeinschaften. Die exzessive Abholzung und die Zerstörung der Regenwälder haben zum Verlust wichtiger natürlicher Lebensräume geführt und die biologische Vielfalt der Welt verringert. Umweltschädliche Methoden der Gewinnung natürlicher Ressourcen haben dazu geführt, daß große Regionen brach liegen und verseucht sind.

73. Am beunruhigendsten ist, daß die Zerstörung in einigen Fällen irreversibel sein kann. Es gilt, dringend aufzuzeigen, welche Handlungsweisen der Gesundheit unseres Planeten bleibenden Schaden zufügen. Solchen Handlungsweisen ist Einhalt zu gebieten.

74. Während die Gewährleistung des Schutzes der natürlichen Ressourcen bestimmte Einschränkungen mit sich bringt, bietet sie gleichzeitig viele wertvolle Anregungen und Möglichkeiten für ein Umdenken. Wissenschaft und Technologie können dabei eine wichtige Rolle spielen. Ein wirtschaftlicherer Energieeinsatz und die Erschließung neuer und erneuerbarer Energiequellen werden unerläßlich sein. Eine Änderung der Lebensgewohnheiten und der Einstellung zum Energieverbrauch seitens der wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen sowie effizientere Produktionsverfahren werden zu einer bestandfähigeren Gestaltung der weltweiten Entwicklung beitragen.

75. Die Einbeziehung der Bewirtschaftung und Erhaltung der natürlichen Ressourcen in die einzelstaatliche Entwicklung kann viele und weitreichende positive Auswirkungen haben. Der Fremdenverkehr, der für viele Länder eine wichtige Einnahmequelle darstellt, kann große Vorteile mit sich bringen, wie die Schaffung einer grundlegenden Infrastruktur, eine Erhöhung der direkten und indirekten Beschäftigung, vermehrte Deviseneinnahmen, ein gesteigertes Umweltbewußtsein, verstärkte Kontakte zur Außenwelt sowie einzigartige Möglichkeiten für den Aufbau eines stärkeren Nationalbewußtseins. Wichtig ist, daß bestandfähige Fremdenverkehrsstrategien entwickelt werden, welche die natürliche Umwelt schützen.

76. In mehreren Mitgliedstaaten begonnene bahnbrechende Initiativen zeigen auch die Bedeutung der Einbeziehung der Gemeinwesen in alle Entwicklungsbestrebungen. Die Neuartigkeit dieser Programme liegt darin, daß die ortsansässigen Bewohner bei diesen Vorhaben von Anfang an zu Partnern gemacht werden anstatt einfach zu sekundären Nutznießern. Die Ergebnisse sind vielerorts signifikant gewesen und haben zu einer erhöhten Wertschätzung der Vorteile des Schutzes der natürlichen Ressourcen, zu einer größeren Zusammenarbeit der Gemeinschaft bei der Erhaltung von Fremdenverkehrsattraktionen und zu höheren Einkommen auf dem Land geführt. Dies sind bedeutsame Beispiele, von denen viele andere lernen und profitieren können.

77. Der zwischen Umwelt- und Entwicklungsfragen bestehende Zusammenhang impliziert jedoch mehr als nur die umweltgerechte Nutzung der natürlichen Ressourcen. Die Erhaltung und der Schutz des ökologischen Gleichgewichts ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Entwicklung, sondern auch des menschlichen Überlebens.

78. Die Wohlfahrt der Gesellschaft wird durch Krankheit und Frühsterblichkeit infolge der Verschlechterung der Luft- und Wasserqualität und anderer Umweltrisiken beeinträchtigt. Verunreinigende Stoffe können durch direkte Einwirkung oder indirekt durch Veränderungen in der physischen Umwelt Gesundheitsprobleme verursachen. Die Gesundheitsrisiken reichen von erhöhter Belastung durch ultraviolette Strahlung bis zur Verschlechterung der Qualität von Nahrungsmitteln und Wasser.

79. Toxische Chemikalien und Schwermetalle können Flüsse und sonstige Wasserquellen verseuchen. Viele dieser Schadstoffe sind mit Hilfe herkömmlicher Reinigungsverfahren oft nur schwer aus dem Trinkwasser zu entfernen. Sie können somit von Menschen aufgenommen werden, die sich nicht gewahr sind, daß die Nahrungsmittel verunreinigt sind. Die Belastung durch Gefahrstoffe und das Risiko einer Verunreinigung infolge von Industrieunfällen sind ebenfalls Probleme, in denen sich der Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung manifestiert.

80. Wenngleich bei der Auseinandersetzung mit den greifbaren und materiellen Aspekten der Umwelt ihre sonstigen Vorzüge oft nicht gebührend beachtet werden, sollte die Natur doch auch um ihrer selbst willen geachtet werden und die in Zahlen nicht meßbare Befriedigung, die aus der Freude an der natürlichen Umwelt gewonnen werden kann, anerkannt werden.

81. Naturkatastrophen können ungeheure und tragische Auswirkungen auf die Entwicklungsbemühungen haben. Da Naturkatastrophen schwer erkämpfte Errungenschaften rasch zunichte machen können, muß sich die Planung darauf konzentrieren, die unvermeidlichen Rückschläge zu mildern, damit Sozialstrukturen nicht unwiederbringlich Schaden nehmen, wirtschaftliche Initiativen nicht völlig zurückgeworfen werden und die Opfer nicht zu immerwährender Abhängigkeit von externer Hilfe verurteilt werden.

82. Eine bessere Umweltbewirtschaftung erfordert, daß Unternehmen, Haushalte, Bauern, die internationale Gemeinschaft und die Regierungen ihr Verhalten ändern. Es bedarf zielgerichteter Maßnahmen, um sicherzustellen, daß Umweltbelange bei den Wirtschaftstätigkeiten entsprechend berücksichtigt werden. Öffentliche sowie private Unternehmungen müssen für die Umweltfolgen ihrer Tätigkeit verantwortlich gemacht werden, und die Regierungen müssen bei der Ausarbeitung von Politiken und bei der Verfolgung von Strategien, die eine umweltverträgliche Entwicklung fördern, die Führung übernehmen.

83. In vielen Ländern erweisen sich institutionelle Unzulänglichkeiten als Haupthindernis für die Ausarbeitung und Durchführung von umweltverträglichen und verantwortungsbewußten Entwicklungsprojekten. Daher müssen die einzelstaatlichen Kapazitäten für die Ausarbeitung, Durchführung und Durchsetzung von Umweltmaßnahmen gestärkt werden.

84. Die Wechselbeziehungen zwischen Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft und politischer Partizipation verdeutlichen, wie wichtig es ist, den Umweltaspekt der Entwicklung in einen einzelstaatlichen Kontext zu rücken. Der Zusammenhang zwischen Armut und der Bestandfähigkeit der Umwelt ist besonders augenfällig. Obwohl in armen Bevölkerungsgruppen oft eine tief verwurzelte Ethik des pfleglichen Umgangs mit ihrem traditionellen Grund und Boden vorhanden ist, ist es für sie aufgrund des Drucks durch den Bevölkerungszuwachs und des Ressourcenmangels oft schwierig, eine Schädigung ihrer Umwelt zu vermeiden. Die Sorge der Ärmsten, die am Rande des Existenzminimums leben, gilt dem täglichen Kampf ums Überleben. Häufig sind sie gleichzeitig Opfer und Verursacher der Umweltschädigung. Maßnahmen zur Verbesserung der Umwelt, wie zum Beispiel die Reduzierung der Wasserverschmutzung, bringen oft gerade den ärmsten Mitgliedern der Gesellschaft den größten Nutzen. Eine Politik zur wirksamen Minderung der Armut wird dazu beitragen, das Bevölkerungswachstum zu reduzieren und den Druck auf die Umwelt zu verringern.

85. Maßnahmen zur Förderung der technischen Zusammenarbeit und der wirtschaftlichen Ressourcennutzung können ebenfalls dazu beitragen, Lösungen für Umweltprobleme zu finden. Das Verhältnis zwischen Aufwendungen und Ergebnissen und die allgemeinen Auswirkungen der Wirtschaftstätigkeit auf die Umwelt ist einem ständigen Wandel unterworfen. Der Schlüssel zu größerer Bestandfähigkeit liegt nicht unbedingt in geringerer Produktion, sondern in einer anderen Produktionsweise. Steigende Einkommen ermöglichen die Finanzierung von Investitionen zur Verbesserung der Umwelt, und es ist weitaus billiger, der Erschöpfung oder Zerstörung der Natur vorzubeugen, als einen einmal angerichteten Schaden ungeschehen zu machen.

86. Der einzelne und die einzelnen Gemeinwesen verfügen oft nicht über entsprechende Informationen über Umweltauswirkungen oder über kostengünstige Möglichkeiten der Schadensvorbeugung. Die Regierungen und andere Stellen müssen das Umweltbewußtsein daher aktiv fördern. Ein solches Bewußtsein kann der wichtigste Motivationsfaktor für umweltgerechtes Handeln sein.

87. Wenn bestandfähige Entwicklung erfolgreich sein soll, muß sie Anliegen und Selbstverpflichtung nicht nur der Regierungen, sondern aller Teile der Gesellschaft werden. Bestandfähige Entwicklung bedeutet die Verpflichtung, erneuerbare Ressourcen zu verwenden und den übermäßigen Verbrauch nichterneuerbarer Ressourcen zu vermeiden. Es sind Produkte und Produktionsverfahren zu wählen, welche der Umwelt möglichst wenig schaden. In der Landwirtschaft muß eine exzessive Nutzung schädlicher, energieintensiver Chemikalien vermieden und die biologische Vielfalt bewahrt werden. In allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens gilt es, die natürlichen Ressourcen zu erhalten und das ökologische Gleichgewicht zu schützen.

88. Prioritäten für eine internationale Umweltpolitik festzulegen ist eine besonders komplexe Aufgabe. Die Kosten des Untätigbleibens werden unter Umständen von anderen Nationen getragen, und die Vorteile kommen nicht immer denjenigen zugute, welche die schwierigsten Entscheidungen treffen.

89. Es gilt, sich mit den Problemen auf allen Ebenen auseinanderzusetzen. Einige, wie die Zerstörung der Ozonschicht, sind von weltweitem Belang. Bei der grenzüberschreitenden industriellen Verschmutzung kann es sich um ein regionales Problem handeln. Die Verschmutzung des Trinkwassers hat vielleicht nur lokale Auswirkungen. Die Rolle von Auflagen beziehungsweise Anreizen auf verschiedenen Ebenen kann hier entscheidend sein. Normen und gezielte Auflagen werden sich als notwendig erweisen, es kann aber auch die Erhebung von Steuern und die Vergabe von Lizenzen Ergebnisse zeitigen.

90. Die Folgen der Entwaldung und der Umweltzerstörung haben zu Belastungen geführt, die bittere Konflikte ausgelöst haben. Armut, Ressourcenzerstörung und Konflikt werden in immer mehr Regionen zu einer allzu vertrauten Konstellation. In der ganzen Welt sind Menschen, die vor den Auswirkungen der Umweltzerstörung und der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen fliehen, zu einer zusätzlichen Bürde für ohnehin bereits stark belastete städtische Gebiete geworden.

91. Obgleich die Schreckensvorstellung von Konflikten um Ressourcen auf dramatische Weise verdeutlicht, daß es im Interesse aller Nationen liegt, sich der Herausforderung von Umwelt und Entwicklung zu stellen, ist doch internationale Zusammenarbeit vonnöten, wenn ein breites Spektrum gemeinsamer Umwelt- und Entwicklungsanliegen wirksam angegangen werden soll. Setzen sich die Auswirkungen der Umweltzerstörung über Staatsgrenzen hinaus fort, so ist es nicht mehr, wie innerhalb eines Landes, möglich, auf einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen, einheitliche ordnungspolitische Maßnahmen, gemeinsame wirtschaftliche Anreize oder die einer einzelstaatlichen Regierung zu Gebote stehenden Mittel zur Zwangsausübung zurückzugreifen.

92. Lösungen für internationale Umweltprobleme müssen auf gemeinsamen Grundsätzen und Regeln der Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten aufbauen und durch Überzeugungsarbeit und Verhandlungen unterstützt werden. Regionale Probleme mit möglichen politischen Auswirkungen können auftreten, wenn benachbarte Länder gemeinsam Anteil an einer Ressource haben, wie etwa an internationalen Flüssen oder Regionalmeeren. Außerdem gibt es globale Umweltressourcen wie die Atmosphäre und die Ozeane, die Gegenstand multilateraler Maßnahmen sein müssen. Im Falle von Ressourcen, die einem Lande gehören, die jedoch für die internationale Gemeinschaft von Wert sind, wie beispielsweise natürliche Lebensräume und seltene Arten, haben die einzelnen Staaten Anspruch auf internationale Unterstützung zur Erhaltung des gemeinsamen Erbes.

93. Die Bestandfähigkeit muß in noch stärkerem Maße zum Leitprinzip der Entwicklung werden. Auf allen Ebenen der Entwicklungsanstrengungen ist Partnerschaft vonnöten - zwischen verschiedenen Ministerien und Verwaltungsebenen im Inneren der Staaten wie auch zwischen internationalen Organisationen, Regierungen und nichtstaatlichen Akteuren. Mit einem Wort: was not tut, ist eine echte Partnerschaft zwischen der Menschheit und der Natur.


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