Agenda für Entwicklung
II. Die Dimensionen der Entwicklung


B. Die Wirtschaft als Motor des Fortschritts

41. Wirtschaftliches Wachstum ist der Motor der Entwicklung überhaupt. Ohne Wirtschaftswachstum kann es keine nachhaltige Steigerung des privaten oder staatlichen Konsums, der privaten oder öffentlichen Kapitalbildung, der Gesundheit, der Wohlfahrt und der Sicherheit geben. Ganz gleichgültig, durch welche sozialen Prozesse Verteilungsentscheidungen getroffen werden, die Fähigkeit dazu ist in armen Gesellschaften äußerst begrenzt; durch Wirtschaftswachstum wird sie gefördert. Fortschritte in bezug auf die anderen in diesem Bericht erörterten Aspekte der Entwicklung - Frieden, Umwelt, Gesellschaft und Demokratie - werden sich positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken.

42. Die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums ist eine Voraussetzung für die Ausweitung der Ressourcenbasis und somit für den wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Wandel. Wirtschaftliches Wachstum ist zwar kein Garant für eine gerechte Verteilung der Erträge oder für den Schutz der Umwelt, ohne Wirtschaftswachstum wird es aber nicht nur an den materiellen Mitteln zur Behebung von Umweltschäden fehlen, sondern auch unmöglich sein, soziale Programme langfristig wirksam durchzuführen. Wirtschaftliches Wachstum hat den Vorteil, daß es dem Menschen mehr Wahlmöglichkeiten eröffnet.

43. Es genügt jedoch nicht, Wirtschaftswachstum um seiner selbst willen anzustreben. Wichtig ist, daß das Wachstum nachhaltig und bestandfähig ist. Wachstum soll die Vollbeschäftigung und die Verringerung der Armut fördern und durch größere Chancengleichheit eine ausgewogenere Einkommensverteilung erreichen.

44. Bei anhaltender oder zunehmender Verarmung und Vernachlässigung der Lebensbedingungen der Menschen werden politische und soziale Spannungen nach und nach die Stabilität gefährden. Voraussetzung für die Verminderung der Armut ist eine Entwicklung, in der der Zugang zu den Vorteilen des wirtschaftlichen Fortschritts möglichst breit gestreut und nicht einseitig auf bestimmte Orte, Sektoren oder Bevölkerungsgruppen konzentriert ist.

45. Verbesserungen auf dem Gebiet des Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungswesens und die Schaffung von mehr sinnvollen Beschäftigungsmöglichkeiten werden unmittelbar dazu beitragen, die Armut und ihre Folgen zu mildern. Bildung, Gesundheit und Wohnungen sind nicht nur an sich erstrebenswerte Ziele, sondern samt und sonders unverzichtbar für die Produktivität der Arbeitskräfte und somit für wirtschaftliches Wachstum. Die Beseitigung von Hunger und Mangelernährung sollte ein eigenständiges Ziel sein.

46. Damit es zu einem nachhaltigen Wachstum kommen kann, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: ein förderliches Umfeld in den einzelnen Ländern und ein günstiges internationales Klima. Ohne entsprechende einzelstaatliche Politiken wird keine noch so umfangreiche bilaterale oder multilaterale Hilfe zu nachhaltigem Wachstum führen. Im Gegenteil, die so geleistete Hilfe kann die Abhängigkeit von der Außenwelt noch verstärken. Ohne ein günstiges internationales Klima wird es schwierig sein, innenpolitische Reformen herbeizuführen, wodurch der Erfolg von Reformen in Frage gestellt und die Not der Bevölkerung noch erhöht wird.

47. Erfolgreiche einzelstaatliche Erfahrungen auf wirtschaftlichem Gebiet müssen auf pragmatischen Politiken beruhen. Der Notwendigkeit, sich die Effizienz des Marktes zunutze zu machen, muß die Erkenntnis gegenübergestellt werden, daß der Staat dort tätig werden muß, wo der Markt nicht allein die Antwort geben kann.

48. Es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß der Staat der oberste Handlungsträger auf wirtschaftlichem Gebiet ist. Nichtsdestoweniger bleibt er dafür verantwortlich, den ordnungspolitischen Rahmen für das wirksame Funktionieren einer wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft vorzugeben. Der Staat muß dort eingreifen, wo dies angebracht ist: bei Investitionen in die Infrastruktur, zur Erleichterung der Entwicklung wertschöpfender Sektoren, zur Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Förderung von Privatunternehmen, ferner um sicherstellen, daß ein entsprechendes soziales Netz vorhanden ist, bei Investitionen in das Humankapital und zum Schutz der Umwelt. Der Staat gibt die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer die einzelnen Menschen ihre langfristigen Zukunftspläne machen können.

49. Es gibt kein allgemeingültiges Rezept für eine Rollenteilung. Öffentliche und private Ausgaben sind untereinander nicht immer austauschbar. Häufig stehen sie nicht so sehr in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen einander vielmehr. Staatliche Politiken zur Förderung gesicherter makroökonomischer Rahmenbedingungen sind unabdingbar für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Diese makroökonomischen Politiken müssen jedoch auf soliden mikroökonomischen Grundlagen aufbauen, die eine effiziente Allokation der knappen Ressourcen gewährleisten. Kommt der Markt seinen Aufgaben nicht nach oder übergeht er wesentliche Wohlfahrtserwägungen, hat der Staat die Möglichkeit zu intervenieren. Doch auch staatliche Politiken und Programme können versagen; in solchen Fällen kann ein handlungsfähiger Privatsektor von entscheidender Bedeutung sein.

50. Die Bestimmung der richtigen Mischung von staatlicher Lenkung der Wirtschaft und Förderung der Privatinitiative ist vielleicht die dringendste Herausforderung an die wirtschaftliche Entwicklung. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein Problem der Entwicklungs- und der Umbruchländer. An der Suche nach dem schwierigen Mittelweg zwischen Dirigismus und Laissez-faire sind alle Länder beteiligt. Auch die großen Marktwirtschaften mit immer wiederkehrender Rezession und einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit sind mit dieser Aufgabe konfrontiert.

51. Die zunehmende Interdependenz der Nationen hat die Weitergabe nicht nur positiver Wachstumsimpulse, sondern auch negativer Erschütterungen beschleunigt. Somit müssen selbst wirtschaftliche Probleme auf einzelstaatlicher Ebene jetzt in ihrem weltweiten Kontext gesehen werden. Die Unterscheidung zwischen einzelstaatlicher und internationaler Wirtschaftspolitik verblaßt. Keine Nation, so erfolgreich sie auch sein mag, kann sich gegen die demographischen, umweltbezogenen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Probleme abschotten, die in der Welt bestehen. Die Auswirkungen von Entbehrung, Krankheit und Krieg in einem Teil der Welt sind überall spürbar. Man wird sie erst erfolgreich in den Griff bekommen, wenn eine die ganze Welt erfassende Entwicklung in Gang kommt.

52. Alle Länder sind Teil eines internationalen Wirtschaftssystems; während zahlreiche Länder nach wie vor nicht vollkommen in dieses System integriert sind, sind andere seiner Instabilität allzu schutzlos ausgeliefert. Der Entwicklungsprozeß wird gehemmt durch die Probleme der Auslandsverschuldung, den Rückgang der externen Ressourcenströme, den jähen Verfall der Austauschrelationen und zunehmende Beschränkungen des Marktzugangs. Unzureichende technologische Zusammenarbeit hat zahlreiche Länder an einem wirtschaftlicheren Einsatz ihrer Ressourcen gehindert, was sich nachteilig auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit auswirkt und ihre Einbindung in die Weltwirtschaft noch mehr behindert.

53. Die Ausweitung des internationalen Handels ist für das Wirtschaftswachstum unabdingbar und stellt einen integrierenden Bestandteil der ökonomischen Dimension der Entwicklung dar. Es besteht kein Zweifel an den Vorteilen eines verstärkten Handels: niedrigere Transaktionskosten, größere wirtschaftliche Chancen sowie größeres internationales Vertrauen und größere internationale Sicherheit.

54. Die Schwierigkeit des Zugangs zum Welthandelssystem stellt ein gewaltiges Entwicklungshindernis dar. Derzeit diskriminiert das System oft die Entwicklungsländer, indem es ihren Vorteil bei den niedrigen Arbeitskosten einschränkt, während gleichzeitig die Preise für zahlreiche Grundstoffe eine rückläufige Tendenz aufweisen.

55. Die Internationalisierung der Wirtschaftstätigkeit, das größere Vertrauen in die Marktkräfte, die weitverbreitete Erkenntnis, daß die Privatinitiative eine treibende Kraft des Wirtschaftswachstums ist, und die massiven Anstrengungen, die Entwicklungs- und Umbruchländer zur Liberalisierung des Handels unternehmen, erfordern ein offenes und transparentes Handelssystem, dessen Regeln und Disziplinen von allen beachtet werden. Findet ein Land, daß es einen entscheidenden komparativen Vorteil in einer bestimmten Wirtschaftstätigkeit hat, und investiert es dementsprechend, so sollte es sich später nicht neuen protektionistischen Maßnahmen gegenübersehen, wenn seine Investitionen Früchte zu tragen beginnen und sein Produkt in andere Märkte vordringt.

56. Die wirtschaftliche Interdependenz wird jedoch rasch mehr als nur eine Frage des Handels und der Finanzen. Es gibt auch starke Tendenzen zu größerer Offenheit hinsichtlich der Bewegung von Geld, Menschen und Ideen rund um die Welt. Dies hat die Regierungen veranlaßt, im Inland ein Umfeld zu schaffen, das ausländische Investitionen anzieht.

57. Von wesentlicher Bedeutung für alle Entwicklungsanstrengungen ist es, daß diejenigen Länder, deren wirtschaftliche Macht das internationale Umfeld maßgeblich beeinflußt, eine makroökonomische Politik betreiben, die von globalem Verantwortungsbewußtsein getragen ist. Die großen Volkswirtschaften spielen weltweit in der Finanzwirtschaft nach wie vor eine überragende Rolle. Besonders maßgeblich ist ihre Politik in der Frage der Zinssätze, der Inflation und der Wechselkursstabilität. Ständige Wechselkursschwankungen verschärfen das Schuldenproblem durch ihre Auswirkungen auf die Zinssätze, die Deviseneinnahmen und -reserven sowie auf den Schuldendienst. Die von den großen Volkswirtschaften im Inneren verfolgte Politik wird in einer in zunehmendem Maße durch globale Kapitalmärkte gekennzeichneten Welt von entscheidender Wichtigkeit sein.

58. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit wird nur dann wirksam und erfolgreich sein, wenn die großen Volkswirtschaften sich diese selbst zum Ziel machen. Es gibt keinen Mechanismus, durch den die großen Volkswirtschaften dazu veranlaßt werden können, in ihrer eigenen Wirtschaft strukturelle Veränderungen vorzunehmen, die weltweit positive Auswirkungen haben, oder zu einer Wirtschafts-, Fiskal- und Währungspolitik überzugehen, die in stärkerem Maße von einem globalen Verantwortungsgefühl getragen ist.

59. Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik unter den großen Volkswirtschaften erfolgt derzeit im wesentlichen durch die Gruppe der sieben wichtigsten Industrieländer. Wiederholte Bemühungen von seiten der Entwicklungsländer, wie der gegenwärtige Versuch, eine Verbindung zwischen der Gruppe der Sieben und der Gruppe der Fünfzehn (Hochrangige Gruppe für Süd-Süd-Konsultation und -Zusammenarbeit) herzustellen, sind gescheitert. Mit der Erkenntnis, daß das Wachstum in den großen Industrieländern nicht mehr der einzige Motor der weltweiten Entwicklung ist, ist ein Umdenken angezeigt, damit die Prozesse der wirtschaftspolitischen Koordinierung auf eine breitere Grundlage gestellt werden.

60. Die Mechanismen zur Integrierung einer verantwortungsvollen Wirtschaftspolitik auf internationaler Ebene und des Wachstums auf einzelstaatlicher Ebene sind bislang noch nicht vollständig entwickelt. Geeignete Maßnahmen zur Reduzierung der drückenden Last der internationalen Verschuldung, eine Politik, die protektionistischen Tendenzen entgegenwirkt, sowie Maßnahmen, um sicherzustellen, daß die Vorteile des neuen Ordnungsrahmens der Welthandelsorganisation auch den Entwicklungsländern zugute kommen, stehen an oberster Stelle der Prioritäten.

61. Der Mangel an für die wirtschaftliche Entwicklung notwendigen Finanzmitteln wird verschärft durch die Schuldenkrise, die eine ohnehin schon schwierige Situation noch erheblich verschlimmert. In den letzten zehn Jahren mußten die verschuldeten Entwicklungsländer durchschnittlich 2 bis 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts ins Ausland transferieren; in einigen Fällen beliefen sich diese Transfers auf 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder mehr. Paradoxerweise sind einige Entwicklungsländer inzwischen zu Nettoexporteuren von Kapital geworden.

62. Das Verschuldungsproblem hat viele Facetten. Einige Länder schulden den Geschäftsbanken hohe Beträge. Viele Länder mit niedrigem Einkommen sind bei öffentlichen bilateralen und multilateralen Gläubigern hochverschuldet. Es wurden Bemühungen zur Umschuldung der den Geschäftsbanken geschuldeten Beträge und in bestimmten Fällen zum Erlaß der öffentlichen bilateralen Schulden unternommen. Jedoch wurde nicht genug getan, um die Belastung durch multilaterale Schulden zu erleichtern oder Länder zu unterstützen, die trotz einer großen Schuldendienstbelastung nicht in Zahlungsverzug sind.

63. Obwohl es kein Patentrezept zur Erzeugung von Wirtschaftswachstum gibt, werden heute, ein halbes Jahrhundert nachdem sich "Entwicklung" als eigenständiges Forschungsgebiet herausgebildet hat, doch bestimmte grundlegende Voraussetzungen als unabdingbar anerkannt. Vor allen anderen ist dabei die Notwendigkeit einer strategischen Entscheidung für die Entwicklung zu nennen. Der Staat muß den politischen Willen haben zu handeln.

64. Entwicklungsentscheidungen werden nicht im luftleeren Raum getroffen. Alle Gesellschaften müssen ihre früheren entwicklungspolitischen Entscheidungen, die politischen Interessengruppen, die Produktionsstrukturen, die Beziehungen mit der Außenwelt sowie kulturelle Werte und Erwartungshaltungen berücksichtigen. Die Gestalt des Wachstums wird zu einem Großteil davon abhängen, in welchem Maß sich diese Faktoren auswirken und welche Kompromisse sie notwendig machen.

65. Die Erfahrungen der Länder, die in den letzten Jahren eine rasche Entwicklung zu verzeichnen hatten, können als das Ergebnis einer bewußten Entscheidung des Staates angesehen werden, dem Wachstum strategischen Vorrang einzuräumen. Der Einfluß staatlicher Politik, beispielsweise durch die Förderung von Forschung und Entwicklung oder die Unterstützung der Infrastruktur und des Bildungswesens, ist von entscheidender Bedeutung gewesen. Daraus läßt sich jedoch nicht ableiten, daß Wachstum durch staatliche Institutionen stattfindet. Der Staat gibt lediglich den Anstoß zum Wachstum; es ist die Wirtschaft, die wachsen muß, nicht der Staat.

66. Der Staat wiederum muß das Wachstum derart umsetzen, daß es für die verschiedenen politischen Interessengruppen annehmbar ist. Ungeachtet dessen, für welche Produktionsweise man sich entscheidet, wird ein nachhaltiges Wachstum, das sich auf die Akkumulierung von - materiellem, menschlichem und institutionellem - Kapital stützt, bestimmte Opfer im gegenwärtigen Konsumverhalten notwendig machen. Die Zurückstellung des Konsums zugunsten zu erwartender künftiger Erträge ist eine politische Entscheidung, ebenso wie die Entscheidung des einzelnen zum Sparen.

67. Die grundsätzliche Lehre der letzten Jahrzehnte ist unverändert gültig: Die Mechanismen zur Erzeugung von Wachstum müssen sich den unterschiedlichen Bedingungen, Umständen und Kapazitäten anpassen. Wachstum verlangt politischen Einsatz und Weitblick. Die Vereinten Nationen können als Vermittler fungieren und die Kommunikation erleichtern, sie können jedoch das Engagement der einzelnen Staaten und ihrer innerstaatlichen und internationalen Partner nicht ersetzen.


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